Die gefühlte Leere im Portemonnaie

Von einer Inflation kann keine Rede sein, mit ihr zu drohen, nützt dem Kapital. Auf unschöne Art und Weise pathologisieren Ökonomen und Medien ausgerechnet den Teil der Bevölkerung, der die gestiegenen Preise für Lebensmittel und Energie am deutlichsten spürt. von lutz getzschmann

»Die Angst vor der Inflation ist zurück. In den vergangenen Wochen haben Preissprünge bei Milch, Butter, Brötchen und Benzin das lange vergessene Thema wieder ins Gespräch gebracht«, hieß es in der Bild-Zeitung. Die nur wenig seriösere WAZ schrieb, der Bundesbankpräsident Axel Weber sei besorgt über die auf das Jahr hoch­gerechnete Teuerungsrate von 2,4 Prozent, die 0,1 Prozent über dem Durchschnitt in der EU liege.

Tatsächlich ist der Preis für Rohöl so hoch wie nie zuvor, und infolgedessen auch für Diesel, Benzin und Heizöl. Die Lebensmittel werden teurer, die Energiekonzerne erhöhen die Strompreise, alles wird teurer. Was die Medien jedoch meist verschweigen, ist, dass die meisten Analysten die Inflationsgefahr und damit die Aussicht auf ein Ende des Aufschwungs eher gelassen sehen. Denn in erster Linie sind jene Preise gestiegen, die Haushalte mit niedrigen Einkommen belasten, aber kaum relevant für die Inflationsentwicklung sind.

»Wie bei der Euro-Teuro-Diskussion ist die Debatte sehr emotional und vor allem in der Psyche der Konsumenten begründet«, sagt Timm Behrmann vom Statistischen Bundesamt. »Die amtliche Statistik belegt, dass der Preisauftrieb im Rahmen der vergangenen Jahre liegt.« Zwar strebt die Europäische Zentralbank (EZB) jährliche Preissteigerungen von höchstens zwei Prozent an, das Überschreiten dieser Marke im derzeitigen Rahmen wird jedoch eher als Anzeichen für eine positive Wirtschaftsentwicklung gewertet.

Der Unverschämtheit, mit der Wirtschafts­redakteure und bürgerliche Ökonomen jene Mehrheit der Bevölkerung pathologisieren, welcher die Preissteigerungen wirklich zu schaffen machen, ist wiederum bezeichnend. Alles sei eine Frage der Psyche. »Man fühlt sich ärmer, als man ist«, behauptete der Volkswirt Andreas Scheuerle von der Deka-Bank. Und Timm Behrmann erklärte, warum das so ist: »Die Milch, die um wenige Cent teurer geworden ist, kauft man jede Woche. Den um 100 Euro billiger gewordenen Fernseher aber nur alle 15 Jahre. Deshalb empfinden Verbraucher den Kaufkraftverlust als viel stärker.« Die »gefühlte Inflation« – eine der Standardfloskeln besagter Wirtschaftsredakteure – ist es also, die die Konsumenten dazu verleitet, ihre sich verschlechternden Lebensbedingungen für wichtiger zu halten, als sie es, makroökonomisch gesehen, sind.

Tatsache ist: Lebensmittel und Energiepreise steigen, für die ökonomisch schwächeren Segmen­te der lohnarbeitenden Bevölkerung bedeutet das eine reale Verschlechterung ihrer ökonomischen Situation. Die Schmerzgrenze der ärmeren Leute ist erreicht. Sie sind jedoch gar nicht gemeint, wenn Marion Trimborn in der WAZ schreibt: »Ob der wirtschaftliche Aufschwung 2008 weitergeht, wird auch von den Inflationsängsten abhängen. Sie könnten die Kauflust der Konsumenten drosseln und so den erwarteten Konsumaufschwung verhindern.« Denn die Kassiererin im Supermarkt und der Zeitungsausträger von nebenan haben bisher nahezu ihr gesamtes Einkommen für alltägliche Verbrauchsgüter ausgegeben und werden das auch in Zukunft tun. Wenn gleichzeitig die Löhne sinken und die Preise steigen, kann eben von Kauflust oder »Konsumaufschwung« keine Rede sein.

Die begehrten Konsumenten sind eher die besser verdienenden Angestellten in den Städten – also eben nicht die Leute, die in Bild vom »Inflationsalarm« lesen, sondern diejenigen, die mit beruhigenden Kommentaren im Wirtschaftsteil der FAZ zum Konsumieren animiert werden sollen.

Eine reale Inflationsgefahr besteht derzeit in Ländern Asiens und des Mittleren Ostens, deren Währungen an den US-Dollar gekoppelt sind oder denen der hohe Ölpreis eine überhitzte Konjunktur mit Preissteigerungen bis neun Prozent beschert. In Deutschland und Europa ist die Inflationsrate bisher in einem Maße gestiegen, den die Ökonomen nahezu einhellig als nicht besorgniserregend einschätzen, zumal der hohe Euro-Kurs sich dämpfend auswirkt.

Wenn eine größere Inflationsgefahr in Deutschland nicht unmittelbar besteht, stellt sich die Frage, warum bestimmte Medien diese Gefahr so nachdrücklich heraufbeschwören. Offenbar wird hier weitgehend taktisch argumentiert. Eine gute Konjunktur begünstigt die Forderungen nach Lohnerhöhungen. Die im DGB organisierten Gewerkschaften haben sich einige Jahre lang stark zurückgehalten, um angesichts hoher Erwerbslosenzahlen und angeblich schlechter Konjunkturdaten die ach so Not leidenden Unternehmen nicht in den Ruin zu treiben und weitere Arbeitsplätze zu gefährden. Das Ergebnis waren deftige Reallohnverluste und – zumindest in einigen Branchen – Rekordgewinne der Unternehmen, die jedoch die Jobs keineswegs sicherer gemacht haben. Inzwischen ist in gewerkschaftlichen Kreisen vom »Ende der Bescheidenheit« die Rede, obwohl sich abzeichnet, dass etwa Verdi oder die IG Metall derzeit kaum noch in der Lage sind, einen harten Arbeitskampf auch wirklich zu führen.

Gewissermaßen vorbeugend wird ein Szenario entworfen, das an den Ölpreisschock der siebziger Jahre gemahnt und vor allem an die in jener Zeit erzielten zweistelligen Lohnsteigerungen, die, so die gängige Argumentation, die Konjunktur zerstört und eine gefährlich hohe Inflationsrate herbeigeführt hätten. Was einigen Wirtschaftslobbyisten den Angstschweiß auf die Stirn treibt, ist allerdings weniger eine reale Krisengefahr als vielmehr der hohe Symbolwert, den ein möglicher­weise erfolgreicher Streik des Fahrpersonals bei der Deutschen Bahn AG hätte. Dieser würde verdeutlichen, dass es möglich ist, mit kämpferischem Auftreten und dem Mut zu einer ernsthaften Konfrontation deutlich besser dazustehen als etwa Verdi beim Streik bei der Telekom vor wenigen Monaten. Streiks – und zwar richtige Streiks, die ein Unternehmen lahm legen – sind wieder zum Gesprächsthema geworden, und was die GDL schafft, könnten andere eventuell auch versuchen. Jenseits der geschwächten Großgewerkschaften wächst da ein fürs Kapital beunruhigendes Potenzial heran. Auch wenn nicht gleich ein rücksichtslos geführter Arbeitskampf dem nächsten folgt, könnte die Zeit vorbei sein, als die Interessen des Kapitals nicht einmal in Frage gestellt wurden.

Entsprechend muss in einer Weise gedroht werden, die wohl am treffendsten mit der Rechnung umschrieben werden kann: höhere Lohnabschlüsse gleich Inflation gleich Rezession gleich Jobverluste. Zugleich aber muss darauf geachtet werden, dass diejenigen, die viel konsumieren sollen, aber traditionell nicht besonders gerne streiken, bei Laune gehalten werden. Das ist nicht ganz einfach.

In der Zeit – also einer Zeitung mit etwas anderer sozialer Streuung als Bild oder WAZ – merkte Dieter Wermuth unter der Überschrift »Es gibt kein Inflationsproblem« an, der wichtigste Treiber der Inflation seien gemeinhin die Löhne, genauer: die Löhne bereinigt um die Effekte des Produktivitätsfortschritts, also die so genannten Lohnstückkosten. Deshalb konnte er Entwarnung geben: »Laut Bundesbank übertrafen die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten im zweiten Quartal ihren Vorjahresstand um 0,1 Prozent – und ihren Wert vom Frühjahr 1997 im Übrigen gerade einmal um 2,9 Prozent. Die Lohnkosten haben die Inflation im letzten Jahrzehnt massiv vermindert.« Zur weiteren Beruhigung der um das Wohlergehen der deutschen Wirtschaft besorgten Leserschaft wies er darauf hin, dass angesichts einer Arbeitslosigkeit von 3,7 Millionen die Verhandlungsposition der Lohnabhängigen nach wie vor schlecht sei, trotz der gelegentlichen Erfolge einzelner Gruppen.

Richtig ist daran natürlich, dass erfolgreiche Tarifauseinandersetzungen nicht nur eine Frage der Entschlossenheit, sondern auch der Verhand­lungsmacht sind. Wer ein großes Unternehmen zu Zugeständnissen zwingen will, muss die Möglichkeit haben, es ernsthaft zu schädigen. Dass die Bereitschaft dazu wächst, gehört zu den Neuheiten im weniger sozialpartnerschaftlich organisiertem Kapitalismus. Eine solche Verhandlungsmacht haben nicht alle Lohnarbeiter. Insofern ist kaum zu erwarten, dass dem Streik der GDL einer nach dem anderen folgen wird.

Die Bemühungen der Medien, die Wirtschaftslage in Deutschland fragiler darzustellen, als sie ist, haben also eher einen vorbeugenden Charakter. Dennoch verändert sich derzeit das gesellschaftliche Klima möglicherweise stärker, als man es bei der Zeit oder dem Spiegel wahrhaben will.