Der Blues steckt in der Aldi-Tüte

Wie man durch die Türen aus der Hamburger Schule hinauskommt. Von Roger Behrens

Ich erinnere mich, einmal auf der Rückseite irgendeiner Doors-Platte – wahrscheinlich war es bloß eine der vielen schnöden Best-of-Compilations – eine Jim Morrison zugeschriebene Erklärung der Bedeutung des Bandnamens gelesen zu haben: Türen seien Übergänge, Schwel­len zwischen den Welten; durch sie könne man eben­so hinein- wie hinauskommen, von bekannten in unbekannte Räume wechseln. Durchaus mit jugendlicher Sympathie für solche zur Pseudometaphysik aufgeplusterte Banalität dachte ich damals, das weiß ich noch, so etwas geht nur mit der englischen Sprache: »The Doors« funktioniert, »Die Türen« gar nicht, klingt überhaupt schon ziemlich bescheuert. Das dachte ich auch Jahre später noch einmal, als ich vor einiger Zeit das erste Mal Aufkleber oder Plakate sah, auf denen eine Band mit eben diesem Namen ihre Konzerte ankündigte: Die Türen.

Nun haben Die Türen ihr drittes Album veröffentlicht, dessen Titel nicht weniger konsequent ist als der Bandname: »Popo« (oder »P-O-P-O«). Und so sehr nunmehr gewiss ist, nach über drei Jahrzehnten, dass nach Punk und Disco, House und Hardcore, New Wave und Postrock so etwas wie The Doors nur als Retrophänomen noch Relevanz hätte, so sicher kann man sich jetzt sein: Die Türen und »Popo« – das funktioniert heute, das kann man machen. Es ist gleichsam die musikalische Entsprechung der Marxschen Einsicht, dass sich nichts in der Geschichte zweimal ereignet – wenn doch, dann das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce. Die Farce ist hier in sehr kluger und zudem wunderschön klingender Weise als ästhetisches Prinzip perfektioniert. Und dieses Prinzip heißt zunächst einmal: Soul.

Das ist die Form der meisten der zwölf Songs; ihr Inhalt sind allesamt vollkommen unprätentiöse Wahrheiten, die zwar nicht notwendig zum Überleben sind, aber gleichwohl hinreichend für gute musikalische Unterhaltung. »Pause machen ist nicht, sonst bist du arbeitslos und pleite«, heißt es bündig in »Pause machen geht nicht«. Und in »Ehrliche Arbeit«: »Allein durch Arbeit ist noch keiner reich geworden, nur fürs Leben gibt es kein Geld.« Deshalb empfehlen Die Türen: »Nutze die Zeit, um deine Existenz zu bauen, wenn du tot bist, geht das nicht mehr.« Schließlich, denn Vorsicht – »Der Blues kommt zurück in die Stadt«: »Sei nicht traurig, das letzte Hemd hat keine Taschen. Sei nicht traurig, da ist immer noch genug Pfand auf den Flaschen.«

Das sind tanzbare Durchhalteparolen, teils mit Melodie setzenden Bläsern verschönert, teils im treibenden Boogie-Rhythmus, als angemessener Spott für das kulturlinke Prekariat. Mit anderen Worten: Das sind mehr als nur alberne Texte, vielmehr markieren sie exakt das Niveau, auf das der Popdiskurs die letzten Jahre zusteuerte, ja das Niveau, auf dem die Abi-Jahrgänge 1992 bis 1994 der Hamburger Schule heute ihre Klassentreffen veranstalten. Das ist zugleich auch etwas sehr Sympathisches an den Türen: Obwohl eine Berliner Band, beteiligen sie sich mitnichten an dem Deutschpop-Soundtrack der neuen Hauptstadt; eigentlich beteiligen sie sich an gar nichts, außer an dem feinen Projekt ihrer Band (und nebenbei: Dass man bisher, nach der Auflösung von Blumfeld, erst einmal nur von dem Keyboarder und Bassisten Michael Mühlhaus etwas hört, nämlich hier auf »Popo«, kommt wohl nicht von ungefähr).

Gekonnte Farce ist auch die Corporate Identity, mit der Die Türen »Popo« präsentieren: Die CD ist eine Bierschinkenscheibe und das Booklet eine Postwurfsendung, mit der die Songs jeweils als Schnäppchen für einzelne Türmodelle angeboten werden: »Geschmack braucht man keine, man kauft sie einfach ein!«, lautet die Parole in falschem Deutsch und richtigem Reklamejargon. Als Bildhintergrund dient das blauweiße Streifen­muster, das die Discounterkette Aldi seit Jahrzehnten für ihre Plastiktüten verwendet. Was Die Türen und der Cover-Designer Andrew Sinn vielleicht gar nicht wissen, aber sich als interessantes Detail entpuppt: Die Aldi-Streifen hatte seinerzeit der Neokonstruktivist Günter Fruh­trunk gestaltet und berühmt gemacht; das rückt das Album in den Bereich der Kunst, genauer: in den Bereich der Gegenwartskunst, wenn nicht des gegenwärtigen Kunstbetriebs, der sich nicht nur allgemein als finanziell äußerst lukrativ erwiesen hat, sondern der der in die Bedeutungs­losigkeit aufgelösten Hamburger Schule und ihren lokalen wie nationalen, politischen wie ästhetischen Nachahmern gleichsam eine neue Heimat, mindestens ein Reservat bedeutet. Die einstigen Protagonisten und gegenwärtigen Derivate der Poplinken haben nämlich längst erkannt, dass der eleganteste Weg in den konformistischen Mainstream der Umweg über die als nonkonformistisch geltende Kunst ist. Dieser Schlenker führt über den Kunstmarkt, der ökonomisch derzeit mehr zu bieten hat als der Musikmarkt.

Die Türen sagen eigentlich oder vielleicht etwas ganz Ähnliches, denn »Popo« lässt sich ja auch mit »Pop im Arsch« übersetzen. Schließlich ist es insofern die Hintertür, durch die man hinauskommt oder hinein, je nachdem: Der Diskurspop und der Popdiskurs sind gleichermaßen gescheitert – ob in Gestalt der Hamburger Schule oder der so genannten Wohlfahrtsausschüsse; allerdings gar nicht politisch gescheitert, denn politisch gab es da nichts, woran man scheitern konnte. Gleichwohl gab es den politischen Willen, das unbedingt gewollte Politische. Doch genau das charakterisiert dieses Scheitern, was Blumfeld mit ihrem – schließlich auch künstlerischen – Ende quittierten und Tocotronic süffisant »Kapitulation« nennen: Die seit den Anfängen betriebene symbolische Selbstüberbietung und fortlaufende Sinnüberhöhung hat sich schlichtweg an den kruden Erwartungen des Publikums totgelaufen – man wollte gute Musik, bekam aber immer noch irgendwie politische und irgendwie politisch gemeinte Zeichen­ordnungen dazugeliefert, bis jeder musikalische Einfall in Anspielungen und Assoziationen zu ersticken drohte.

Von Blumfeld bleibt zum Schluss der »Apfelmann« übrig. Bei Tocotronic steht der gute Indierock disparat zu den wie auch immer intendierten Texten. Da wird das Prinzip der Tragödie fortgesetzt, während eben Die Türen das Prinzip der Farce stark machen: Ihr freies Spiel mit Sinn und Bedeutungen ist solider Unfug, damit aber der momentan noch glaubwürdigen Idee von Pop angemessen. Die Türen sind dabei buchstäblich nur die Türen zu einer kleinen, gut gefüllten Konzerthalle, in der eine ganze Reihe von unterschiedlichsten Musikern, Bands und Projekten sich einfindet, wozu gleichermaßen Die Zimmermänner und Superpunk gehören, sicherlich und seit jeher Knarf Rellöm (derzeit: Knarf Rellöm Trinity), ebenso Saalschutz, und schließlich Jens Friebe mit seinem äußerst schönen Album »Das mit dem Auto ist egal, Hauptsache, dir ist nichts passiert«.

»Wenn der Sport der Bruder der Arbeit ist, ist die Kunst die Cousine der Arbeitslosigkeit«, zitieren Die Türen Thomas Kapielski. Das passt dazu: Auf der Homepage von Blumfeld wird der jetzt erscheinende »Konzertfilm« von Harry Rag, die »Blumfeld-Live-DVD« »Nackter als nackt«, beworben, »aufgenommen auf der Abschiedstour am 29.04.«. »Hier bestellen« anklicken und man landet bei Amazon.

Ich höre mir derweil noch einmal meine alten Doors-Platten an, die ich irgendwo in einer Aldi-Tüte verstaut hatte.

Die Türen: Popo. (Staatsakt)