Motiv: Hass

Schwule, Transvestiten und Transsexuelle werden in Istanbul immer häufiger zu Opfern so genannter Hassmorde. In den meisten Fällen sind die Täter, die äußerst brutal zuschlagen, selbst schwul. Unterstützung bekommen die Opfer meistens nur von den wenigen LGBT-Vereinen, die sich gegen homophobe Gewalt und alltägliche Diskriminierung in der Türkei engagieren. von sabine küper-büsch

»Ein Hassmord wird besonders brutal ausgeführt«, erklärt Derya. Nur eine kleine Gruppe von Journalisten hört zu. Drumherum stehen Neugierige, die wissen wollen, was ein geschminkter Mann in Frauenkleidern vor dem Istanbuler Elitegymnasium Galatasaray zu sagen hat.

»Während ein Täter gemeinhin im Affekt ein- bis zweimal schießt oder mit dem Messer zusticht, zeichnen sich Hassmorde dadurch aus, dass der Körper des Opfers zerfetzt wird. Die Mörder fühlen sich im Recht, weil das Opfer für sie kein vollständiger Mensch, sondern eine unwürdige, ehrlose, verachtenswerte Kreatur ist.« Der Transvestit spricht selbstbewusst in Richtung der Pressevertreter, stoisch ignoriert er die Passanten. Die meisten Neugierigen sehen aus, als würden sie die Ansicht der Mörder teilen. Ein Mann in einem schmuddeligen Anzug, unrasiert und nach Alkohol stinkend, fängt an zu brüllen, was denn hier los sei mit »den ganzen Tunten und Homos«. Die Aktivisten des LGBT-Verbandes Lambda, Veranstalter der Pressekonferenz, fackeln nicht lange. Ein fast zwei Meter großer Transvestit in Pumps und mit blonder Perücke packt den Störer am Kragen, wirbelt ihn unter dem Beifall der Anwesenden durch die Luft und setzt ihn ein paar Meter weiter wieder ab. Der Mann verschwindet schnell in der dichten Menge auf dem Istiklal Boulvard.

Zwei Männer in Zivil kritzeln unentwegt auf Schreibblöcke. Sie sind Mitarbeiter der in der Szene verhassten Polizeistation von Beyoglu. Sie ist dafür berüchtigt, dass ihre Mitarbeiter Transvestiten grund­los auf der Straße mit Personalienkontrollen schikanieren, Geld erpressen und nachts auf der Wache misshandeln. An den Haaren ziehen, Busenkneifen und Hodenquetschen sind die gängigen »Disziplinierungsmaßnahmen«. Kein Wunder, dass die Schwulenszene in Istanbul kein Vertrauen in die Aufklärungsarbeit der Polizei setzt, wenn es um Übergriffe auf sie geht. So genannte Hassmorde sind seit Jahren eine grausige Realität, die vor allem im Rotlichtmilieu des Innenstadtviertels Beyoglu, der größten Vergnügungsmeile Istanbuls, stattfinden.

Unlängst wurden im Fastenmonat Ramadan, der am 12. Oktober mit dem Zuckerfest zu Ende ging, in Istanbul ein Transvestit und ein homosexueller Mann Opfer brutaler Morde. Als die Freunde von Mehmet Ugur Marangoz ein paar Tage nichts von ihm gehört hatten, drangen sie in seine Wohnung ein. Sie fanden nur seine malträtierte, nackte Leiche mit durchschnittener Kehle im Bett vor. Als Tatverdächtiger galt für die Polizei von Anfang an sein Liebhaber. Die Tatsache, dass der Ermordete vor seinem Tod Sex gehabt hatte und ihm die Hände auf den Rücken gebunden worden waren, deuten jedoch auf mehrere Täter und eine Vergewaltigung hin. »Die Vergewaltigung eines bekennenden Schwulen wird als solche nicht in Betracht gezogen«, erklärt Süleyman von Lambda. »Schwuler Sex verstößt ohnehin nach dem Gesetz gegen die Moralvorstellungen, Vergewaltigungsklagen sind da ganz unerwünscht.« In der Regel werden die meisten Morde in der schwulen Szene fast umgehend als »milieubedingt« zu den Akten gelegt.

Niemand schert sich um den oder die Mörder des 22jährigen Transvestiten Abdullah Ucele, der als »Ece« nachts in Beyoglu als Sexarbeiter tätig war und Anfang August auf der Straße erstochen wurde. Er war ein Aktivist von Lambda. Kurz vor seiner Ermordung hatte er in Bursa auf einer Demonstration für die Rechte von Homosexuellen gefilmt. Die Veranstaltung war von Nationalisten aufgemischt worden. Überall im Fernsehen waren die von Ece gedrehten Bilder zu sehen gewesen. Trotz der hohen Wahrscheinlichkeit eines politischen Motivs steht in den Akten: »Nächtliche Messerstecherei während illegaler Prostitution«.

18 Hassmorde an Homosexuellen in den vergangenen sechs Jahren sind Lambda bekannt. Einige der Opfer waren Prominente. Wie Cevat Tuksavul, Besitzer eines Edelnachtclubs, der 2001 in seiner Wohnung mit 14 Messerstichen getötet wurde. Der Mord wurde nie aufgeklärt, aber nach Zeugenaussagen soll ein unbekannter junger Mann der Täter gewesen sein.

Der beliebte Radiomoderator Emre Kuytu wurde im Januar 2003 mit durchschnittener Kehle in seiner Wohnung aufgefunden. Da er erst 28 Jahre alt war, entfiel die typische Erklärungsversion »Jüngerer Mann ermordet älteren Schwulen«. Die Polizei überführte schließlich den Mörder und stellte die Tat als Raubmord dar, obwohl der Täter als Motiv explizit Kuytus sexuelle Orientierung genannt hatte. Lambda hat mittlerweile einen Bericht zu der Art und den Umständen so genannter Hassmorde veröffentlicht. Als typisch wird darin vor allem bezeichnet, dass bei diesen Morden homophobe Beweggründe der Täter geleugnet werden und dass dem Opfer durchgängig eine Mitschuld unterstellt wird.

Die Justiz verhält sich entsprechend. Der Journalist Baki Kosar wurde im Februar 2006 mit über 20 Messerstichen von einem jüngeren Liebhaber in seiner Wohnung ermordet. Der Täter, Serhat Baglan, plädierte auf Notwehr, denn Kosar habe ihn sexuell belästigt und seine Ehre verletzt. Das Gericht billigte dem Täter Strafmilderung zu wegen der »schweren Provokation« seitens des Opfers und verurteilte ihn zu 16 Jahren Haft, was im türkischen Strafvollzug allerhöchstens eine reale Haftzeit von zehn Jahren bedeutet. Die »schwere Provokation Kosars« bestand in seiner Homosexualität. Trotz der Vielzahl der Messerstiche wurde Baglan nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt. Da Kosar bekennend schwul war, ist eine Kurzschlusshandlung des Täters weitgehend auszuschließen und ein sehr viel komplexeres Motiv wahrscheinlich.

Kurz vor seiner Ermordung hatte der Journalist einen autobiographisch gefärbten, mutigen Text geschrieben, in dem er die Gewalttätigkeit in seiner Beziehung reflektiert. Der 37jährige fürchtete sich vor seinem etwa zwölf Jahre jüngeren Liebhaber. In seinem Text beschreibt er, wie sein Freund immer mehr im umtriebigen Nachtleben von Beyoglu versackt, nachts nur noch stark betrunken mit einer Horde Trinkkumpane in seiner Wohnung erscheint. »Morgens kommt die von mir bestellte anatolische Putzfrau. Wie eine geschlagene Ehefrau haste ich mit ihr in die Küche, mache Tee und Frühstück, um weiteren Wutausbrüchen zu entkommen, wenn er mit Katerstimmung aufwacht.« Das eigene traurige Ende hat der Journalist sicher nicht erahnen können. Er beschreibt jedoch treffend die Zerrissenheit vieler Männer in der Türkei hinsichtlich der eigenen Homosexualität. Viele verbergen ihre Orientierung in ihrem bürgerlichen Leben und neigen schnell dazu, unter dem homophoben Druck aus der Gesellschaft mit Wut auf die heimlichen Liebhaber loszugehen. Mehrere schwule Mordopfer wurden nach ei­ner gemeinsam verbrachten Nacht von einer Gruppe jüngerer Männer brutal umgebracht. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie die mörderische Gruppendynamik funktioniert.

Die vier Mörder des 45jährigen Aziz Cubuk etwa zerfetzten die Leiche des Opfers in Kastrationsmanier und rechtfertigten sich in ihren Aussagen, die »Schwuchtel fertiggemacht zu haben«. Obwohl der Sex vor der Tat nie geleugnet wird, bekommen die Täter fatalerweise oft Strafmilderung, indem sie die Homosexualität des Opfers ausschlachten. Die Tatsache, dass sie einen sexuellen Kontakt mit dem Opfer hatten, wird in der Regel mit Alkohol- oder Drogenkonsum gerechtfertigt. Das Angebot von Geld spielt auch eine große Rolle, was das Bild des Opfers als verwerflichem Wüstling noch verstärkt. Dies besiegelt die aktenkundige Version eines Verbrechens, das in vielen Fällen begangen wird, um die eigenen homosexuellen Neigungen zu verdrängen.

Hassmorde haben das Rotlichtmilieu von Beyoglu in Verruf gebracht, obwohl mindestens die Hälfte der Morde in anderen Stadtteilen, bei den Opfern zuhause, verübt wurde. Die Szene wappnet sich trotzdem, denn nachts ist die Innenstadt gefährlich, vor allem für die in der Prostitution arbeitenden Homosexuellen.

Hakan zupft sich penibel die Augenbrauen. Hinter ihm sitzt Mitbewohner Deniz bereits ausgehfertig. Da in dem Haus in der Nähe des Tarlabasi Boulvard ausschließlich Transvestiten leben, bieten sie sich gegenseitig einen gewissen Schutz. Hakan klappt das Bettsofa in der Ecke auf und zieht demonstrativ einen Revolver aus dem Bettkasten hervor, »falls mal ganz schwere Jungs hier Krawall machen wollen«. Deniz verzieht das Gesicht. Obwohl er 20 Zentimeter größer als sein Mitbewohner ist und ein schweres, punkiges Make-up trägt, ist ganz offensichtlich er der sanftere Charakter. »Am Ende hast nur du den Ärger«, warnt Deniz, auf ein laufendes Strafverfahren Hakans anspielend. Vor einem Jahr hatte ihm ein Kunde, der nicht bezahlen wollte, mit Vergewaltigung gedroht. Der kleine Hakan stach ihm mit dem Messer in den Oberschenkel, seitdem muss er sich wegen Körperverletzung und illegaler Prostitution verantworten. Das bedeutet bei einer Verurteilung mindestens zwei Jahre Gefängnis.

Männliche Prostitution ist in der Türkei gesetz­lich verboten, dementsprechend bewegen sich Hakan und Deniz auf einem schmalen Grat der Illegalität und sind immer wieder gezwungen, Polizisten zu schmieren, die sie auf der Straße aufgreifen und auf die Wache schleppen wollen. Aus Spaß am Milieu oder an der Sexarbeit sind die beiden nicht in der Branche. Deniz stammt aus einer Mittelschichtsfamilie, die Mutter arbeitete als Stewardess, der Vater war Pilot bei der staatlichen Fluggesellschaft und vermittelte dem seit seinem 14. Lebensjahr offensichtlich homosexuellen Sohn mit dem Hang zu Make-up und Frauenkleidern bürgerliche Anstellungen. Deniz arbeitete als Verkäufer in einer Boutique, einem Schmuckladen, einem Musikgeschäft und wohnte im gediegenen Vorort Ataköy. Die Jobs behielt er nie lange. Nicht, weil der Arbeitgeber unzufrieden gewesen wäre: Immer gab es einzelne Kunden, die einen Transvestiten als unzumutbare Bedienung empfanden. »Immer die gleichen Typen«, mokiert sich Deniz spöttisch, »alte Säcke, die ihr eigenes Schwulsein verdrängen und es mit einem konservativen Familienleben tarnen, oder neidische Frauen, die auch gern so ein Make-up und solch schrille Klamotten tragen würden.« Hakan lacht skeptisch, die gegenseitige Verspottung ist ein Teil der häuslichen Umgangs­formen. Hakan findet sich besonders weiblich, und Deniz ist stolz auf seine Extravaganz, das führt zu vielen kleinen Sticheleien. Galgenhumor hilft, so manchen Schicksalsschlag zu verdrängen. Deniz verlor beide Eltern durch einen Verkehrsunfall, als er gerade zwanzig war. Die Eigentumswohnung musste er bald verkaufen, denn ohne die Vermittlung der Eltern gab es keine neuen Jobs. Den wenigen Verwandten ist der exzentrische junge Mann zu schwierig, Deniz hatte gleichzeitig wenig Lust, sich nach dem Verlust seiner ihm gegenüber immer toleranten und nachgiebigen Eltern von konservativeren Großeltern und Onkeln gängeln zu lassen. Das Geld war nach wenigen Jahren verbraucht, und mit Mitte zwanzig fand er sich auf dem Strich wieder.

Auch Hakan ist Opfer widriger Umstände. Als einziger Sohn einer achtköpfigen kurdischen Familie aus dem konservativen Adiyaman verheim­lichte er seine sexuelle Orientierung. Auch wenn seine in einem konservativen Vorort lebenden Eltern und die sieben Schwestern mittlerweile akzeptieren, dass er nicht heiraten will, so will er sie dennoch nicht mit einer weiblichen Aufmachung konfrontieren. Bei den wenigen Besuchen zweimal im Monat trägt Hakan Männerkleidung, und das lange Haar wird zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Eltern, denen er regelmäßig Geld schenkt, glauben, er arbeite als Kellner in einer Suppenküche. Ursprünglich hatte Hakan versucht, das Schusterhandwerk zu erlernen, als er als Teenager mit der Familie nach Istanbul zog. Doch als die Gesellen merkten, dass der Lehrling schwul ist, wurde er zunächst gehänselt, dann bedrängt und schließlich im Hinterzimmer der Werkstatt vergewaltigt.

Das Abrutschen in die Prostitution ist für die meisten Transvestiten eine bittere Realität. Die Kleidung lässt ein Verstecken der Homosexualität nicht zu, eine bürgerliche Existenz ist kaum mög­lich. Kein Arbeitgeber stellt sie ein, kein Hausbesitzer, der nicht sofort höhere Mieten fordert, selbst in den Geschäften müssen die Transvestiten für normale Waren oft höhere Preise bezahlen. Allein das Showgeschäft bietet eine Nische.

Bülent Ersoy ist eine transsexuelle Sängerin der türkischen Kunst- und Arabeskmusik. Ihre Stimme zählt zu den beliebtesten des Landes. Nachdem sie das Konservatorium in Istanbul als Mann beendet hatte und schnell als Sänger und Schauspieler Karriere machte, fiel Ersoy nicht nur durch seine Begabung, sondern auch durch sein feminines Verhalten auf der Bühne auf. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere, die 1971 begonnen hatte, unterzog er sich 1980 einer Ge­schlechts­umwandlung in London. Nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei erhielt Ersoy vom damaligen Staatspräsidenten Kenan Evren für acht Jahre Bühnenverbot. Dies veranlasste Ersoy, nach Freiburg im Breisgau ins Exil zu gehen. 1989 traf die türkische Nationalversammlung auf Initiative von Ministerpräsident Turgut Özal die Entscheidung, Bülent Ersoy einen ihn als Frau ausweisenden rosa Personalausweis zu bewilligen, das Bühnenverbot wurde aufgehoben. Dennoch wurde der Star ein Jahr später bei einem Auftritt in Adana das Opfer eines Anschlags. Fünf Kugeln trafen die Sängerin. Sie überlebte, aber sie verlor eine Niere. »Das ist doch pervers«, meint Deniz, »die Leute lieben ihre Stimme, tolerieren aber ihre Identität nicht.«

Bigotterie und Doppelmoral bilden den Hintergrund der meisten Hassmorde, in diesem Punkt ähneln sie den klassischen »Ehrenmorden« an Frauen in der Türkei. Positiv ist, dass die feministische Frauenbewegung mittlerweile Solidaritätskampagnen mit dem Schwulenverband organisiert. Ziel ist es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es die herrschenden Moralvorstellungen sind, die die Täter schützen.