Als der Synthie laufen lernte

In einer neuen Serie präsentieren wir Songs, Platten und Bands, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind: roger behrens ­erinnert an Patrick Moraz’ denkwürdiges Keyboardkonzert im Schweizer Fernsehen

Musik im Fernsehen sei Brimborium, das Fernsehkonzert »ein Stück leerer Kulturbetrieb«, sagte Theodor W. Ador­no 1968 in einem Gespräch mit dem Spiegel. Elf Jahre später, am 13. und 14. November 1979, übertrug das Schweizer Fernsehen ein Konzert des Keyboarders Patrick Moraz. Live und solo präsentierte der 1948 geborene Moraz von ihm so genannte »Instant Compositions«.

Wenige Wochen später wurden sie schon in Auszügen auf Schallplatte veröffentlicht: »Future Memories – Patrick Moraz Live On TV«. Zu hören sind improvisierte Arrangements für Synthesizer, denen als Struktur technoide Arpeggiator-Rhythmen unterlegt sind, die Moraz mit zahlreichen Effekten und rhapsodischen Melodien verziert. Um der sich aus dem Spielfluss entwickelnden Musik den Charakter von Kompositionen zu geben, gliedert Moraz seine Klanglandschaften in Sätze (»Metamorphoses«, »Instant electronic composition in one piece of three movements«) beziehungsweise in Teile (»Eastern Sundays, Part I&II«). Abgeschlossen wird das Fernsehmusikspektakel mit einem pathetisch »Black Silk« genannten Klavierstück, mit dem Moraz seine Herkunft aus dem Jazz bezeugt.

Entscheidend ist die Geste, mit der die »Instant Compositions« präsentiert werden: In den Linernotes auf der Plattenhülle beteuert Moraz, er habe alles spontan vor der Kamera gespielt, nur einige Sounds seiner Instrumente seien vorprogrammiert gewesen. Ansonsten: »No other people playing, no tape machines playing.« In einem Schema ist die Anordnung der Instrumente dargestellt, durchnummeriert von eins bis 29 vom Yamaha CS80 bis zum Volume­pedal. Solche Bilder von Keyboardburgen galten damals als Beleg für eine Virtuosität, die zwischen der reinen Spieltechnik und der avancierten Klangerzeugungstechnik changierte. Noch waren die Geräte groß und unhandlich. Das änderte sich kurze Zeit später: Durch die digitale Technologie wurden die Instrumente kleiner, leichter und auch erschwinglicher. Dadurch löste sich der Synthiesound vom Progressive Rock und Jazz und wurde vom New Wave mitgerissen.

Moraz’ »Future Memories« gehören noch zur alten Musikwelt der siebziger Jahre, die klar in die zwei Hälften Rock und Pop getrennt werden konnte. Moraz gehört zum Rock, dem es um den Beweis geht, dass er die Musik sei, die das wahre Erbe der E-Musik, der bürgerlichen Kunst­musik, des Fortschritts in der Musik beanspruchen könne. Doch schon damals zeichnete sich eine ganz andere Entwicklung im Verhältnis von Musik und Fernsehen ab, der Moraz noch einigermaßen naiv gegenübertrat. Die Geschichte lässt sich über eine Anekdote rekonstruieren: Moraz spielte von 1974 bis 1976 bei der Progressive-Rock-Band Yes. Sie versuchte, die Krise des Art- und Progressive-Rock mit übertriebenem Illusionismus zu ignorieren. Doch schließlich wurde klar, dass man sich nicht gegen Punk und Disco behaupten konnte, sondern nur mit diesen neuen Sounds. Ende der siebziger Jahre, als Moraz seine TV-Kompositionen präsentierte, stießen zwei Musiker zu Yes: Trevor Horn und Geoff Downes nahmen mit der längst nicht mehr progressiven Band das Album »Drama« auf. Zuvor hatten die beiden die Band The Buggles gegründet und schon 1979 proklamiert: »Video Killed the Radio Star«. Mit dem Video des One-Hit-Wonders der Buggles begann MTV am 1. August 1981 den Sendebetrieb.

Moraz behandelte mit »Future Memories« Musik aber immer noch als rein akustisches Ereignis, obwohl sie es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr war. Aber weil sie unprätentiös war, gelang Moraz die Fernsehperformance. Anders verhält es sich mit der fünf Jahre später folgenden Wiederholung des Experiments, »Future Memories II« von 1984. Dazu verkleidete sich Moraz, mal als Rockmusiker, mal als Barockmusiker. Außerdem gibt es alberne Heavy-Metal- und SF-Comics, nackte Frauen und martialische Trivialmythologie. In dieser postmodernen Überfüllung mit Bildern ist Musik im Fernsehen dann doch wieder, wie Adorno meinte, ein Stück leerer Kulturbetrieb, nichts als Brimborium.

Patrick Moraz: Future Memories – Patrick Moraz Live On TV (Erstveröffentlichung: Carrere 1979 / Wiederveröffentlichung: Voiceprint 2006)