Virulente Jugend

Zwei ganz unterschiedliche Filme handeln vom Alleinsein in der Großstadt: »Berlin am Meer« und »I am Legend«. Von Jürgen Kiontke

Untote Aliens. Die ganze S-Bahn ist voll davon. Was bin ich auch am Neujahrsmorgen um 2 Uhr mit ei­­nem betrunkenen Franzosen von Hoppegarten/Speckgürtel-Ost zum Alexanderplatz in Berlin un­terwegs. Die Zombies hier sind jung und sehen aus wie der Killer im »Unbekannten Hund« der Gebrüder Reding oder der verkommene Pauli aus Ulrich Seidls »Import/Export«: kaum Haare, Son­nenbank-Visage, glasige Augen, Kopf am Handy. Gleich werden sie losschlagen, ganz wie es in der Bild-Zeitung steht!

Nee, es ist andersrum: Mein Asterix legt sich gleich mit einem an. Der junge Mann ist der ein­zige, der nicht betrunken zu sein scheint. Dafür hat er seinen Fuß auf die Sitzbank gestützt.

Eine Horde Mädchen lenkt die Kontrahenten ab – weil sie auf den Boden kotzen. Wir setzen uns woanders hin. Alle.

Am Bahnhof Lichtenberg gibt’s vier neue Mädchen – und eine fängt doch gleich wieder an, Böses auszuwürgen! Acht Jungs entern eben­falls den Zug. »Ey«, brüllt einer, »sag’ der Hure, wir zahlen alle zehn Euro, wenn sie uns einen bläst.«

Im weiteren Verlauf dieses Geschäftsgesprächs fällt mir ein: Im Kino habe ich gerade gesehen, wo all diese Zombies ihr Benehmen her haben. In »Alien vs. Predator II« gibt es folgende Szene: Das Mischwesen aus Predator und Alien hat sich eine neue Fortpflanzungsmethode ausgedacht. Es würgt seine Embryos aus dem Hals – hinein in den Mund einer Schwangeren, die kurz vor der Entbindung steht. Die Brut macht sich umgehend auf den Weg in die Gebärmutter, wo sie die Babys auffrisst. Der Bauch der Schwangeren platzt nun auf, mitten im Matsch quieken die kleinen Aliens.

Das ist neu. Nie dagewesen. Man hat einen unsäglich schlechten Film drumherum gedreht. Der Anblick hat mich 8,20 Euro gekostet – aber hätte ich sonst die S-Bahn-Fahrt richtig ein­ordnen können?

Die Kinokartenpreise stagnieren seit Jahren, behauptete jüngst der Chef der Deutschen Filmakademie, Stefan Arndt: »Der Kinobesucher zahlt inzwischen fast mehr für das Parkhaus als für die Kinokarte.«

Sicher könnten Filme wie »Alien vs. Predator II« mit 18,20 Euro honoriert werden – bei dem Erinnerungswert. Überhaupt: Der Virenfilm, er hat Konjunktur. Derzeit jagt auch Will Smith die Untoten in »I am Legend«. Als einziger verbliebener Mensch stapft er durch ein verwildertes New York. Ein warmer Aufguss von Filmen wie »28 Days«. Wahnsinnige Irre, Panik. Abends wird dicht gemacht – ein Meilenstein im Genre des Rolladenfilms. Wenigstens spielt der Film im Som­mer, das Kino als lichttherapeutische Anstalt. Regisseur Francis Lawrence: »Mich regte die Vorstellung an, dass ein Einzelner völlig isoliert in einer modernen Großstadt existieren muss.«

Das müssen die Einzelnen in Großstädten alle. Und damit komme ich zum Thema dieses Artikels, denn die Deutschen haben ihre eigenen Un­toten. Zum Beispiel: junge Menschen. Auch und natürlich in Berlin. In der Stadt werden täglich bis zu 50 Filmszenen gedreht. In »Berlin am Meer« sieht man einige davon. Robert Stadlober brilliert als Fraktion Unterhemd. Als Großstadt-Einzelner Tom hängt er mit den anderen Einzelnen rum. Sie heißen Freunde. Mit Freund Malte (Axel Schreiber) bildet er ein Musikprodu­zenten-Duo.

Nachts wird im Club gearbeitet, tagsüber ­geträumt. Beim Kellnern. Im Vorzimmer der Plat­tenfirma, wo man sich so seine Gedanken darüber macht, wie man außer mit Wohnungsmie­te, Umweltplakette und Drogen den Rohstoff Ju­gend ausbeuten kann, haben sie schon gesessen. Bald kommt auch noch die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule.

Man fährt Ford Granada und BMW 1600 mit H-Kennung. Man trägt Tattoos in den Formen der Verzierungen auf den Unterhosen der KiK-Klamottenkette. Döner Kebaps isst man nicht, man wirft sie nach Touristen. Flatrate-Saufen, Träume, Sexualität. »Ich find’ dich echt nett. Wie bescheuert, dass du deine Freundin mithast. Wollen wir uns nicht für eine Minute auf’m Klo treffen, ist besser als gar nichts … ?«

Dann kommt die Müncherin Mavie (Anna Brüg­gemann) und mit ihr Dialoge der Spitzenklasse:

– Was machst du?

– Ich studier’ Politik.

– Was macht man damit, wenn man fertig ist?

– Was bewegen … ? Und du?

– Ich mach’ Musik.

– Was macht man damit, wenn man fertig ist?

– Was bewegen … ?

Mavie absolviert ein Praktikum bei der Partei. Ihr genervter Bruder lässt sie in der Besenkammer schlafen. Die Berliner Großmäuler gehen ihr auf den Zeiger. »Wenn ich gezwungen wäre, hier zu wohnen«, meint die kesse Blondine, »dann würde ich mir auch einreden, was das für ’ne coole Stadt ist.«

Damit liegt sie im Trend. Sogar Christoph Schlin­gensief, jahrelang Berlins Kunst-No.1-Einzelner, hat hier keine Wohnung mehr. Berlin ist so was von tot. Dann sieht Mavie den Fernsehturm nach der Party im Sonnenlicht glänzen. »Ist wunderschön«, findet sie. Wenigstens ist es ein Sommerfilm.

»Stimmt es, dass jede Geschichte als Liebesgeschichte endet?« sinniert der verliebte junge Komponist. Stimmt. Aber meist ohne Happy End. Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen – »Berlin am Meer« diskutiert sämtliche Fragen der Twenty-Somethings unter 25: Kriegt man mit Musik später mal die Kinder satt? Wie geht eine Umsatzsteuervoranmeldung?

Mit dem Verweis auf die Kinder wird man sei­ne wunderschönen Träume knicken. 99,9 Prozent einer Generation tauschen Jugend gegen Tu­gend und nisten sich dann parasitär in der klein­bürgerlichen Nische der Erwachsenen ein. Meist beginnt das mit einem Jobangebot der Eltern in der Provinz (»Firma übernehmen«). Oder mit ei­nem schlichten Nervenzusammenbruch (Tom). Denn oje, die Band ist auseinandergefallen, der Mond liegt in Scherben, das Suizidrisiko steigt.

Malte, den wiedergängerischen Bandkollegen, stopfen sie in den ICE nach Westdeutschland.

Nun zum Titel – er stammt von einer Jeans-Team-CD. Es gibt jede Menge Filme mit Berlin-Bezug im Titel, »Berlin is in Germany«, »Berlin Babylon«, »Walküre« – liegt dieser Film etwa an der Ostsee?

Nö. »Berlin am Meer« bietet eine sehr schöne Einstellung. Deutschland ist abgesoffen von Frankreich bis nach Polen. Nur Berlin ist übrig geblieben und bildet nun eine Insel im Ozean. Szene 51 kommt von Google Earth. Tolles Bild. Wie jetzt, der einzelne in der Großstadt? Die ganze Stadt ist einzeln! Leider konnte ich nicht sehen, ob Hoppegarten auch abgesoffen ist.

Zusatz: In »Berlin am Meer« gibt es nur zwei Sorten von, wie man heutzutage sagt, migran­tischen Mitbürgern. Die einen verkaufen Essen. Die anderen treten den Deutschen in die Eier. Die Problemjugendlichen, die keinen Scheck aus dem Meer kriegen, machen alles kaputt.

Mit so was hab’ ich auch Silvester in der S-Bahn gerechnet. Denn: Je näher wir am Neujahrs­morgen der Stadtmitte kamen, umso mehr Pro­blemjugendliche hatten sich in die S-Bahn gestopft. Riecht’s nach Ärger? Nee, nach Erbroche­nem. Jugend ist ein Problem an sich. Am Alexanderplatz angekommen, geht ein Aufatmen durch die Menge nächtlich-einzelner Aliens: »Endlich im Westen.«

Kino ist manchmal schlimmer als die Wirklichkeit. Noch.

Berlin am Meer«. Regie: Wolfgang Eißler. Darsteller: Robert Stadlober, Anna Brüggemann, Axel Schreiber, Jana Pallaske, Claudius Franz, Emma Daubas, Aaron Hildebrand, Alina Bauer. Start: 10. Januar. »I am Legend« (USA 2007). Regie: Francis Lawrence. Darsteller: Will Smith, Charlie Tahan, Alice Braga. Start: 10. Januar