Die Zitrone ist poli tisch

Die Berlinale präsentiert sich in diesem Jahr als historische ­Aufarbeitungsanstalt. Ist 1968 die Welt stehen geblieben? fragt sich jürgen kiontke

Wird Deutschland ein Linksstaat?« bibberte die Bild-Zeitung angesichts des Ausgangs der Wahlen in Hessen und Niedersachsen. Den Wahlkampf hatte das bunte Massenblättchen entscheidend beeinflusst. Mit Roland Koch setzte man darauf, dass eine rassistische Kampagne Stimmen bringen würde. Pustekuchen.

Jawohl, das Springer-Blatt hat Angst. Die Rudi-Dutschke-Straße liegt genau vor der Tür des Axel-Springer-Hauses in Berlin. Wir haben 40 Jahre 1968. Einer der prägnanten Slogans lautete damals: »Enteignet Springer!« Da nützt es nichts, dass der Achtundsechziger – oder besser: ehemalige Achtundsechziger – Thomas Schmid heutzutage Springer-Chefredakteur ist.

Ganz in der Nähe gibt es in dieser Woche auch noch das: Eine Schwerpunktveranstaltung der Berliner Filmfestspiele heißt »War at home«, Krieg zuhause. Man will an den Februar 1968 erinnern: In Berlins Technischer Universität fand am 17. und 18. Februar die internationale Vietnam-Konferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes statt. Rudi Dutschke rief die Weltrevolution aus: Die Nato müsse zerschlagen, der US-Imperialismus und seine Vasallen sollten gehörig geschwächt werden. Freie Liebe und Uschi Obermaier in der Illustrierten. Che Guevara und Kommunismus auf den Postern. Aus vielen Kehlen ertönte der Ruf: »Alle Macht den Räten, brecht dem Schütz die Gräten!« Die Linke ist vereint gegen Krieg. Wenigstens gegen so einen. Wenigstens damals.

40 Jahre später wollen uns die Berliner Bil­der­zusteller daran erinnern. Wie tun sie es? Gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung nimmt man das Ereignis zum Anlass, die US-amerikanische Perspektive auf den Vietnam-Krieg – und zwar nur diese – in einem Film­programm nachzuzeichnen.

Amerika war demnach 1968 Hitler. Die Ber­linale zeigt Kriegsspielfilme wie »M.A.S.H.« von Robert Altman aus dem Jahr 1970 und »Coming Home« von Hal Ashby von 1978, die man für ge­wöhnlich einmal im Monat im Nachtprogramm von Kabel 1 begutachten kann. Insgesamt acht Filme wird diese kleine Sparte umfassen. Aber es gibt durchaus Platz für Stimmen, die die Kritik an den USA kritisieren: Es wird auch »The Green Berets« (USA 1968) von Ray Kellog und mit John Wayne gezeigt – Hollywoods wohl einziger Film, der den Krieg in Viet­nam zu rechtferti­gen versuchte.

1968 – der Bezug zur Gegenwart? Schnell wird er hergestellt. Die Damen von der Berlinale posieren wie einst die Obermaier auf den Titelblättern, nur angezogen in der Illustrierten Brigitte: »Presse-Chefin Frauke Greiner – Trend: Purismus. Kleid in Silbergrau mit schmalem Gürtel von Boss Black, ca. 400 Euro.«

Die Musik: Es gibt Filme mit und von Neil Young (»Hey Hey, My My«), Patti Smith (»Pissing in the River«), Mick Jagger (VW Golf). Diese Men­schen werden auch zu Besuch kommen. Alle »War at home«-Filme werden im Berliner Ameri­ka-Haus gezeigt, einem Gebäude, in dessen Fenster schon jeder Achtundsechziger einen Stein geworfen hat. Die Retrospektive ist Luis Buñuel gewidmet. Meist handeln seine Werke von einer Bourgeoisie, die es heute so nicht mehr gibt. Gleich sein erster Film, »Der andalusische Hund«, stellt die Gewaltfrage: Einer Frau wird mit einem Messer der Augapfel aufgeschnit­ten. Der Film ist von 1929 – das ganze Jahrhundert ist 68!

Außerdem hat sich aus Sicht der Organisatoren nichts geändert. »Vietnam, Irak – und der nächste Krieg steht schon auf der Liste«, sagt der Leiter des Festivals, Dieter Kosslick. Gemeint ist der Feldzug gegen den Islam im Allgemeinen und gegen den Iran im Besonderen. »Der Irak-Krieg ist eine andere Form des Vietnam-Kriegs« – diese These begegnet uns auch sonst, etwa in Dokumentarfilmen, in die man die Nackt­installationen von Abu Ghraib und anderswo eingearbeitet hat.

Und: Wo Islam ist, ist auch Israel nicht weit. Die beiden Wörter hören sich ja auch fast gleich an. Israel bzw. »der Staat Israel«, wie man hier zu sagen pflegt, und Festivalchef Kosslick haben etwas gemeinsam: Beide werden 60 Jahre alt.

Israel sei ein Land, mit dem die Welt immer noch nicht zurechtkomme, sagt Wieland Speck von der Sektion »Panorama«, die sich auf Queer Cinema, nicht nur, aber gern aus Israel spezia­lisiert hat. Hiam Abbas spielt in »Lemon Tree« (Il, F, D 2008) eine Palästinenserin, deren geerbter Zitronenhain direkt an das israelische Territorium grenzt. Keine Frage: Die Zitrone ist politisch. Vor zwei Jahren durfte man sich mit Abbas als palästinensischer Mutter in »Para­dise Now« (NL, F, D 2006) noch in die Luft spren­gen. Einen Sommer der Liebe, wie der des Jahres 1968 wohl wegen Wood­stock auch genannt wird, können wir schon im Februar auf der Berlinale erleben: dekorativ und in einer prägnanten Formel zusammengefasst als »A Jihad for Love« (USA u.a. 2007). Re­gisseur Parvez Sharma berichtet in seinem Film mit diesem Titel von der neuen, kämpferischen Einstellung junger Homosexueller, die in arabischen Ländern leben und in der Regel gesteinigt (Saudi-Arabien) oder am Kran aufgehängt (Iran) werden. Der Film wurde von Sandi Dubowski produziert. Mit »Trembling before G-d« hat er 2001 schon das orthodoxe Judentum in ähnlicher Weise mit der gleichgeschlechtlichen Liebe konfrontiert.

Ach so, Kosslick verkündet zu seinem 60. Geburtstag: »Es gab früher mal eine Gesellschaft mit mehr Gefühlen und mehr Solidarität. Und mehr ­Engagement.« Wenn man von »früher« anfängt und auch noch die Rolling Stones einlädt, sollte man vielleicht doch mal über einen Rücktritt nachdenken.

Um noch einen Moment im »Früher«-Modus zu bleiben: Man kommt sich zuweilen vor, als sei 1968 die Welt stehen geblieben. Oder wurde die Uhr zurückgedreht? So ein Programm gibt nie Antworten. Dafür wurde an einer Stelle rich­tig gepatzt. Denn auch die Brigitte kann es nicht verhindern, dass ein Aufbruch von 1968 heutzu­tage nicht mehr beachtet wird: derjenige der Frauen.

Unlängst rühmte sich Jürgen Brüning, Erfinder des Berliner Pornofilmfestes, damit, dass sein Programm zu 30 Prozent aus Filmen von Frauen bestehe. Das sei eine bessere Quote als auf der Berlinale. Der Mann hat Recht. Entweder greift die Frau nicht zur Kamera. Oder sie dreht nur Porno­filme. Oder sie kann sich nicht durchsetzen. Denn die Zahlen der Berlinale sehen so aus: Im Wettbewerb laufen zwei Filme von Regisseurinnen, 24 Filme von Männern. Im Berlinale Special: drei zu 16. Im Panorama: zwölf zu 52, im Forum ebenso. In der Retro­spektive: keine Frau.

Insgesamt sind von den 384 Filmen 86 von Frauen gedreht worden. Wenn es um Kinder und Kinderfilme geht, wird aber nicht so strikt nach Geschlechtern getrennt: Die Sparte Kplus/14plus verzeichnet 22 Filme von Regisseurinnen, insgesamt sind es 56 Filme.

Bei all dem Achtundsechziger-Brimborium hätte man der Achtundsechziger-Filmemacherin auch mal eine Sektion widmen können. Denks­te: Dem »Aufbruch der Filmemacher« wird eine Reihe zugestanden. Als da wären: Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog, Wim Wenders, Hark Bohm, Hans W. Geißendörfer, Uwe Brandner. Der Aufbruch fand ohne Frauen statt. 1968 fand ja auch schon ohne Frauen statt. Ein »Girls’ Day« zur Berlinale findet sich dieses Jahr tatsächlich nur in der Brigitte.

Bleibt noch zu erwähnen: »Berlin, 1. Mai« (D 2007), der Startfilm der Festivalreihe Perspek­tive Deutsches Kino, spielt an diesem denkwürdigen Datum in Kreuzberg. Der 1. Mai in Kreuzberg ist eine originär deutsche Leistung. Woanders wird zwar auch protestiert. Aber dass man jahrelang den eigenen Stadtteil zu Klump haut, das ist schon speziell.

In »Berlin, 1. Mai« zieht der Jugendliche Yavuz mit seinem älteren Bruder los, um der Polizei mal zu zeigen, was er für ein Kerl ist. Jakob und Ludwig, zwei bürgerliche Vorstadtkids, machen einen Ausflug nach Berlin – in der Hoffnung auf Kloppe.

Provinzpolizist Uwe kommt derweil mit seiner Einheit in die Stadt und denkt den ganzen Tag nur an seine Frau, die ihn seit Monaten betrügt. Da kommen ihm diese Gestalten gerade recht. Regie führte u.a. Sven Taddicken, der auch »Em­mas Glück« (D 2006), zu sehen in der Reihe German Cinema, gedreht hat.

Diese Typen, die nun Filme über die Orte drehen, wo sich ihre Eltern schon blaue Augen geholt haben, sind großartig: Filmhochschule beendet, Kamera an, Film ab. Ob mit oder ohne Drehbuch, das ist im neuen, jungen, deutschen Kino egal, zuweilen produziert es schöne, lus­tige Filme. Regisseurinnen aber sind auch hier Mangelware. Ist eben ein harter Männerjob, die Bildkunst.

Berlinale: 7. bis 17. Februar. www.berlinale.de. Karten gibt es ab dem 5. Februar 2008 täglich von 10 bis 20 Uhr in den Arkaden am Potsdamer Platz, im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, im Kino International, Karl-Marx-Allee 33, 10178 Berlin Mitte. Der Vorverkauf findet drei Tage im Voraus, für die Wettbewerbswiederholungen vier Tage im Voraus statt. Am Tag der Vorstellung gibt es Karten nur an den Tageskassen der Kinos.