Schlecht verdaut

Der Ehrengast Pierre Henry enttäuschte zwar. Doch abseits akustischer ­Leibesübungen konnte das Festival Club Transmediale mit opulentem Eklektizismus begeistern. von uli krug
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Unpredictable« war das diesjährige Motto des Club Transmediale – und in historischer Sicht trifft es tatsächlich zu auf Pierre Henry, den mittlerweile 81jährigen Komponisten, Elektronik-­Pionier und Geräuschtüftler, dem sich die Retro­spektive der Veranstaltungsreihe widmete. Sein Erstlingswerk zumindest war im Wortsinn »unvorhersehbar« gewesen. Henry führte nämlich zusammen mit seinem Mentor Pierre Schaeffer am 18. März 1950 in der Pariser Ecole normale de musique die erste Symphonie ohne Partitur, also ohne eine im Voraus niedergeschriebene Notation, auf. Diese »Symphonie pour un homme seul« bestand ausschließlich aus Klangcollagen, die von Schallplatten abgespielt wurden. Tonbandgeräte standen damals in Frankreich noch nicht zur Verfügung.

Thematisch drehte sich das Stück um die Geräusche, die der menschliche Körper hervorzubringen im Stande ist. Seit dieser Zeit setzte Henry seine Stücke stets aus Klangelementen zusammen, die zwar recht bald schon elektronisch verfremdet wurden, aber prinzipiell in der akustischen Außenwelt abseits absichtlicher, musikalischer Klangerzeugung vorhanden sind. Das ist auch das Grundprinzip der Musique concrète, wie sich dieser neue Komponierstil nannte. Henry wurde durch seine Arbeit zum Pionier des Samplings und der elektronischen Tanzmusik der letzten zweieinhalb Jahrzehnte, der Programm-Musik, aber auch des modernen Hörspiels – und nebenbei zum Komponisten des Titelstücks der Cartoonserie »Futurama«, das ihm bereits 1964 unter dem Namen »Psyche Rock« einen veritablen Erfolg in den Charts einbrachte.

Wenn die großen Collagen, die Henry in den vergangenen Jahrzehnten produzierte, häufig unterhaltsam ausfallen, so liegt es an der handwerklichen Qualität: Er ist immer noch der unbestrittene Meister, wenn es darum geht, gruselige Sounds hervorzubringen. Einen Höhepunkt erreichte diese Fähigkeit in der auf grandiose Weise misslungenen Kollaboration Henrys, der an Popmusik als »heidnischem Ritual« interessiert war und ist, mit der britischen Blues-Rock-Band Spooky Tooth auf »Ceremony« von 1969. Nie hat diese Band, die sich vor lauter Schreck über das Resultat gleich danach auflöste, dem ersten Bestandteil ihres Namens mehr Ehre gemacht als mit den elektronischen Schock­einlagen aus Henrys Werkstatt.

Viel mehr jedoch kann Musique concrète nicht bieten, denn sie ist aufgrund ihrer exklusiven Bindung ans Vor- und Außermusikalische stark limitiert und konzeptionell alles andere als »unpredictable«. Das Geräusch wird nämlich nur durch Zutun des Gedankens zum Ton. Wenn man aber das Denken außen vor lassen will, droht ständig die Trivialität: Was unmittelbar mit Geräuschen assoziiert wird, ist meist schlicht und dreht sich gern ums als peinlich Empfundene, vor­wiegend um die Verdauung und den Ge­schlechts­verkehr. Auf diesem Phänomen beruht ja auch der akustische Witz jedes Slapstick-Films. Und peinlich ging es auch während Henrys relativ neuem einstündigem Stück »Pulsation« gleich mehrmals zu. Auf der Transmediale wurde es zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt. Der Tiefpunkt der Darbietung in der Berliner Volksbühne war die elektronische Zote, die aufgenommene, rhythmische Laute, die abwechselnd von einer tiefen Männer- und einer hohen Frauenstimme ausgestoßen werden, beschleunigte und zum allgemeinen Gaudium in das Geräusch eines quietschenden Bettgestells überführte.

Vielleicht muss Henry auch deswegen zu solch plakativen Peinlichkeiten greifen, weil die akustische Realität des heutigen Alltags ihm und sämtlichen anderen Elektronikpionieren früherer Jahrzehnte so zusetzt. Musique con­crète herrscht nämlich allenthalben: Klingeltöne, akustische Signale des Computers, mit Tickersound unterlegte Nachrichten, überall elektronisch erzeugte und/oder imitierte Geräusche. Vieles, was bei Henry und anderen so etikettierten »Vätern des Techno« einst »unpredictable« schien, ist mittlerweile mehr oder weniger irrelevant.

Und so suchte der Club Transmediale 2008 dem Motto auch eher im Bereich der Performance und des Mitmachens gerecht zu werden. Auch hier allerdings ging nichts hinaus über das geistige Befangensein im Geräusch, also in der naheliegendsten Assoziation, die im Kopf des Hörers das Geräuschmaterial zu ordnen versucht. Der Brite Dallas Simpson ließ das Publikum an seiner einem Radar ähnlichen akustischen Raumwahrnehmung teilhaben, der Plattendreher Christian Marclay produzierte mit Hilfe des Elektronikers Flo Kaufmann live eine Platte nur auf Basis eines von Marclay mit der Nadel bearbeiteten, leeren Schallplattenrohlings. Wurde hier das Publikum nur »Zeuge eines kreativen Prozesses in situ« mit unvorhersehbarem Ausgang, wie die Veranstalter wissen ließen, so durften die Besucher bei anderen Installationen mitwerkeln. Ein »Sonic Wargame« ließ in einem zweitägigen Turnier jeweils vier Spieler gegeneinander antreten und das Publikum ständig abstimmen, wessen Schallerzeugnisse es hören wollte, die Primitivisten von »Shit&Shine« boten 45 Minuten einen Beat, ein Riff und zahllose Schlagzeuger, um das Publikum zum Mitstampfen zu animieren. Noch konkreter kann Musik schlechterdings nicht werden als im motorischen Ritual des Mitmachens.

Wer eher ein Faible für komponierte Musik denn für akustische Leibesübungen hat, kam allerdings bei dem Festival durchaus auch auf seine Kosten, zumindest sofern er opulenten Retro-Eklektizismus schätzt. Es gab versponnenen Folk zu hören, wie ihn britische Bands wie Lindisfarne und Curved Air in den Siebzigern spielten. Die vielköpfigen Efterklang aus Dänemark erweckten die pompöse Melancholie jener Tage zu neuem Leben. Daneben diente der psychedelische Funk George Clintons als Vorbild, dessen Bandprojekt Parliament zwischen 1974 und 1980 zur Musik eine bis heute unübertroffene Außendarstellung bot: nämlich als Blaxploitation-Helden in interstellarer Mission, Shaft goes Hawkwind sozusagen. Wurde die Londoner Sängerin Ebony Bones dem Vorbild eher vom Outfit her gerecht, so wandelten die Detroit Grand Pubahs auch musikalisch auf Clintons Spuren und boten mit humorigem Synthie-Geblubber »aufgepimpte« Tanzmusik. Die größte Freude für Eklektizisten aber war der Auftritt der achtköpfigen Chrome Hoof, die Canned Heat mit Slayer, B 52’s mit The Residents, Mother’s Finest mit Goblin, Magma mit Uriah Heep, Egg mit Devo und das ganze mit je einem Schuss Death Metal und Minimal-Elektro mischen. Wer die aberwitzige Mixtur diesmal verpasst hat, bekommt übrigens im Februar in Köln, Hamburg und Berlin erneut die Gelegenheit, sich dieser musikalischen Grenz­erfahrung auszusetzen.