Wohlstand für wenige

Früher wählten sie die CDU, heute haben sie kein Geld mehr im Portemonnaie. Beim Streit der Konservativen um Kochs Wahlniederlage ist keine Rede davon, dass gerade in Hessen Teile ihrer Klientel die Angst vorm sozialen Abstieg kennengelernt haben. von richard gebhardt

»Integrationspolitik ist so fundamental für die Zukunft unseres Landes, dass sie nicht zum Wahlkampfthema degradiert werden darf.« So lautet die Schlüsselstelle eines in der Zeit veröffentlichten Offenen Briefs von 17 CDU-Politikern, der offiziell als Antwort auf eine kurz zuvor erschienene Intervention deutsch-türkischer Intellektueller präsentiert wurde. Auch wenn die Unterzeichner des Briefes, darunter Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust, die Ausländerpolitik Roland Kochs ausdrücklich lobten, wurde der Brief allgemein als Distanzierung vom hessischen Ministerpräsidenten verstanden.

Die Stellungnahme von Angehörigen des liberalen Parteiflügels bildete den bisherigen Höhepunkt des gegenwärtigen Richtungsstreits in der Union, die wegen ihres schwachen Abschneidens in Hessen (zwölf Prozent Verluste im Vergleich zur Landtagswahl im Februar 2003) und Niedersachsen (5,8 Prozent Verluste im Vergleich zu 2003) über ihr Profil streitet.

Der knappe Vorsprung der CDU von 3 595 Stimmen gegenüber der SPD in Hessen gilt als Niederlage Kochs. Obwohl der führende Repräsentant der Rechtskonservativen in der Union für seine Forderungen nach einem »Warnschussarrest« und »Erziehungscamps« für kriminelle Jugendliche, vorzugsweise für solche mit Mi­gra­tions­hinter­grund, die Zustimmung der Partei und der Kanzlerin hatte, gelang ihm mit den altbewährten Law-and-Order-Themen kein Erfolg. Trotz großer Unterstützung der Springer-Presse und des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zeigte die Fixierung auf das vermeintliche Tabu­thema »Ausländerkriminalität« nicht die gewünschte Wirkung. Im Tagesspiegel wurde bereits der Verlust konservativer Identität bedauert: »Die Zeit der Dreggers, Schön­bohms und Kochs ist endgültig vorbei, das Bedürfnis nach konservativem Klartext bleibt künftig unbefriedigt.« Jedoch lässt die Klage über das »Ende einer konservativen Volkspartei in Deutsch­land« die Frage nach den Gründen für die schwindende Bindekraft der Union unbeantwortet.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte eine Analyse, derzufolge Kochs propagandistischer Stil die Wechselwähler verschreckt habe. Das Thema Jugendgewalt sei zwar auf große Resonanz gestoßen, die Regierung Koch habe aber unter einem »Glaubwürdigkeitsdefizit« gelitten. Das zentrale Wahlkampfthema sei als reine Taktik wahrgenommen worden. Bereits zuvor war von der Opposition auf die mit 4,1 Monaten bundesweit längsten Bearbeitungszeiten in Hessen bei der Strafverfolgung hingewiesen worden.

Für den Vorsitzenden der Mittelstandsvereinigung der Union, Josef Schlarmann, sind jedoch nicht die immanenten Widersprüche der Kam­pagne Kochs der Grund für die starken Stimmenverluste. Schuld sei der »Linkskurs« der Union in der Großen Koalition. Dieser werde von den bürgerlichen Stammwählern nicht mehr mitgetragen, sagte Schlarmann dem ZDF. Der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrats, Kurt Lauk, ergänzte in der Leipziger Volkszeitung, »die 40 Millionen Leistungsträger, die jeden Tag zur Arbeit gehen«, müssten »wieder stärker in den Mittelpunkt rücken«. Schließlich trügen sie die Verantwortung dafür, dass Deutschland »Exportweltmeister« sei »und dass Sozialhilfeempfänger bei uns überhaupt finanziert werden können«.

Warum aber ausgerechnet mit Roland Koch ein Kritiker des »Linkskurses« der Großen Koalition eindeutiger Wahlverlierer war, der als »Weichzeichner« (FAZ) geltende niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff jedoch immerhin noch 42,5 Prozent erhielt, können die Mittelständler in der Union nicht erklären. Sie fordern eine schlichte Neuauflage der Reformrhetorik, mit der die Partei im Bundestagswahlkampf 2005 scheiterte und mit der sie sich gerade in Hessen an der Realität der CDU-Wähler blamierte.

»Operation Sichere Zukunft« war seit dem Jahr 2003 der Name der hessischen Politik der Zumutungen im Öffentlichen Dienst, die Entlassungen, Arbeitszeiterhöhungen und Lohnkürzungen beinhaltete. Die Jugendrichter, Staatsanwälte und Polizisten, die sich in den vergangenen Wochen öffentlich gegen Kochs Wahlkampf aussprachen, trieb nicht nur die Fürsorge für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund um, sondern die blanke Wut über mangelde finanzielle Ausstattung und Aktenberge auf dem Schreibtisch. Die konservativen Bürger sehen zudem mit Unbehagen, wie ihre Sprösslinge in der auf zwölf Jahre verkürzten Gymnasialzeit gedrillt werden.

Viele Wähler der Union bangten um ihre eigene gesellschaftliche Integration durch Lohnarbeit, die in Hessen mit Kochs »strikter Haushaltskonsolidierung« unterlaufen wurde. Die Diskrepanzen zwischen der als reine Zeitungsmeldung wahrgenommenen Aufschwungseuphorie und der eigenen ökonomischen Realität prägen auch das Bewusstsein der CDU-Wähler. Das alte konservative Erfolgsversprechen vom »Wohlstand für alle« kann längst nicht mehr eingehalten werden.

Mit Skepsis blicken nicht zuletzt traditionelle Anhänger der Union auf die vermeintliche Verdrängung der romantisierten Deutschland AG durch das Modell Nokia. Unter der Ägide des »Arbeiterführers« Jürgen Rüttgers förderte die CDU in Nordrhein-Westfalen mit Subventionen die Profitmaximierung des Unternehmens. Derzeit trägt das Land die sozialen Folgekosten der angekündigten Werksschließung. Die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft meinen darunter zu leiden, dass global agierende Manager, die nüchtern betriebswirtschaftlich kalkulieren, die bundesrepublikanische Sozialfigur eines dem Allgemeinwohl verpflichteten Unternehmers ablösen, dem bei der Verkündung von »notwendigen« Massenentlassungen wenigstens noch öffentlichkeitswirksam die Tränen kamen.

Aufgrund der Angst vor sozialer Deklassierung verändern sich zaghaft auch tradierte konservative Wählermilieus. Dem jahrzehntelangen Antikommunismus zum Trotz sieht eine bemerkenswerte Minderheit von 16 000 ehemaligen hessischen Wählern der CDU das Ethos der katholischen Soziallehre zurzeit besser bei der Linken aufgehoben. Derweil tingelt der ehemalige CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm zusammen mit dem 2005 als Spitzenkandidat der Linken vorgesehenen Schauspieler Peter Sodann auf Kabaretttour durch die Republik. In der Zeitschrift der Bundestagsfraktion der »Linken«, Clara, lobte Blüm im November 2007 das neueste Buch des Vorsitzenden der Linkspartei in Niedersachsen, Diether Dehm, der rein zufällig der Manager des »betenden Kommunisten« Sodann ist.

Die Erosion des Sozialen begünstigt nicht nur ein Fünfparteiensystem mit einer unübersichtlichen Wahlarithmetik, sondern provoziert überdies originelle Bündnisse – und lässt auch in den Reihen der Unionssympathisanten eine Schar von »Frustrierten« entstehen, zu der Hartz-IV-Auf­stockerinnen ebenso gehören wie insolvente Handwerksmeister. Auch die »Leistungsträger« sind mehr und mehr verunsichert. »Man kann gegen das halbe Volk keine Wahlen gewinnen«, sagte Heiner Geißler, Mitglied der CDU und von Attac, auf Spiegel online zu den Stimmenverlusten unter jungen und weiblichen Wählern, städtischen Bildungsbürgern und Angestellten des Öffentlichen Dienstes.

Koch brachte mit seiner Kampagne vor allem Rentner und Hausfrauen auf seine Seite – und die linksliberale Öffentlichkeit gegen sich auf. Die Majorität der autoritären konservativen Klientel konnte er diesmal nicht für sich gewinnen. Die »schweigende Mehrheit«, als deren Lautsprecher sich Koch aufspielte, gönnte sich lieber einen wahlfreien Sonntag. Allerdings deutet ein temporäres Problem, Wählerstimmen zu gewinnen, nicht unbedingt auf ein grundlegend verändertes politisches Koordinatensystem. Und wer sich über eine »Niederlage« der hessischen Krawallkonservativen freut, sollte eine ernüchternde Zahl nicht vergessen: Es waren 1 009 749 Wählerinnen und Wähler, die trotz aller Proteste und politischen Apathie ihr Kreuzchen bei Koch machten.