Begehren und Bilder

Seine Filme stießen entweder auf totale Ablehnung oder brennende Begeisterung. Heute sind Werke wie »Ein andalusischer Hund« und »Das goldene Zeitalter« kanonisierte Klassiker, der antibourgeoise Furor des vom Surrealismus zehrenden Filmemachers ist nur noch eine formales Element. Die Skandalgeschichten der Filme Luis Buñuels zeigen, wie stark religiöse, politische oder kulturelle Bewertungen von den Zeitumständen beeinflusst sind. Auf der 58. Berlinale kann man sich auf eine cinematografische Zeitreise begeben. Von Esther Buss

Der Avantgarderegisseur Jean Epstein, für den Luis Buñuel bei zwei Filmen als Assistent tätig war, warnte ihn nach Ende ihrer Zusammenarbeit vor »surrealistischen Neigungen« – als handele es sich dabei um eine ansteckende Krankheit. Buñuel schlug die Warnung in den Wind, lebte seine Neigungen aus, und in Zusammenarbeit mit Salvador Dalí entstand 1929 sein einflussreiches Erstlingswerk »Ein andalusischer Hund«, ein Film, der aus Träumen beider Künstler hervorging und als eines der Schlüsselwerke des surrealistischen Films gilt. Der Schnitt eines Rasiermessers durch einen menschlichen Augapfel, der durch eine einfache, aber umso effektivere Montage suggeriert wurde, muss damals ein Schock gewesen sein, doch es war der nachfolgende Film, der den eigentlichen Skandal auslöste: »Das goldene Zeitalter« (1930). Bilder von skelettierten Kardinälen auf einer felsigen Küstenlandschaft oder ein Förster, der den eigenen Sohn über den Haufen schießt, nachdem dieser ihm eine Zigarette aus der Hand geschlagen hat, führten zu Protesten der extremen Rechten und schon bald zum Verbot des Films. Obwohl sich die Brisanz verflüchtigt hat, wirkt »Das goldene Zeitalter« noch immer erstaunlich unverbraucht. Das liegt auch an der lapidaren Art der Grenz­überschreitung und einer slapstickhaften Komik, die ganz ohne Kunstanspruch auskommt. Denn trotz seiner starken Präferenzen und vehementen Abneigungen war Buñuels Haltung schon immer von einer gewissen Entspanntheit gekennzeichnet – ganz im Gegensatz zu dem rigiden Dogmatismus André Bretons oder den mitunter krampfhaften Selbstdarstellungsanstrengungen Dalís.

Luis Buñuel ist bestimmten Prinzipien des Surrealismus bis zuletzt verbunden geblieben, auch wenn er streng genommen keine weiteren surrealistischen Filme mehr machte und Anfang der dreißiger Jahre seine Karriere als Avantgardefilmemacher schlagartig abbrach. So zieht sich seine Vorliebe für den Traum bzw. das Imaginäre als »unzensierte« Realität, die gleichberechtigt neben der sichtbaren Wirklichkeit steht, durch sein gesamtes Werk – ebenso wie das alle Schranken und gesellschaftliche Normen überschreitende leidenschaftliche Begehren, das in der »Amour fou« seine vollkommenste Form findet.

Nach einigen nervenaufreibenden und enttäuschenden Erfahrungen mit den Surrealisten (Buñuel wurde im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern nie aus der Gruppe ausgeschlossen), entfernte er sich zunächst von der künstlerischen Avantgarde. Es entstanden die halbstündige Dokumentation »Land ohne Brot« (1933) über die Verelendung der Bevölkerung einer abgelegenen Bergregion Spaniens – wieder ein Film, der nicht in den Kinos gezeigt werden durfte, die neue rechte Regierung verbot ihn – sowie die aus Archiv- und Wochenschaumaterial zusammengestellte Kompilation »Espagne 37«, eine enthusiastische Parteinahme für die Republikaner (1936/37). Danach realisierte Buñuel für das Madrider Unternehmen Filmófono vier kommerzielle Filme – seine Mitwirkung als Regisseur kehrte er dabei lieber unter den Teppich – und reiste über Frankreich, wo er bis zum Ende des Bürgerkriegs für die Spanische Botschaft tätig war, in die USA. Am Museum of Modern Art in New York war er für spanischsprachige Fassungen von Dokumentarfilmen verantwortlich, bis Dalí ihn als Kommunisten denunzierte und er wieder auf der Straße stand. Die Möglichkeit, erneut als Regisseur arbeiten zu können, führte ihn schließlich nach Mexiko ins Exil.

Von 1946 bis 1964, von »Das große Kasino« bis »Simon in der Wüste«, drehte er 20 Filme (von insgesamt 32), immer mit kleinen Budgets und sehr kurzen Drehzeiten. In »Mein letzter Seufzer«, seinen Lebenserinnerungen, in denen er auch das Geheimrezept für seinen geliebten Martini dry unterbrachte, bezeichnet er einen Großteil dieser Filme zwar als notwendigen Broterwerb, schämen müsse er sich deshalb aber noch lange nicht: »Dennoch habe ich meines Wissens nicht eine Szene gedreht, die nicht mit meiner Überzeugung oder meiner persönlichen Moral vereinbar gewesen wäre.«

Buñuels Arbeiten in der aufblühenden mexikanischen Filmindustrie sind alles andere als ein homogener Werkkomplex. Es finden sich Auftragsarbeiten darunter, aber auch unabhängige Projekte wie »Die Vergessenen« (1950), eine ungeschönte Darstellung des Lebens von Straßenkindern in Mexiko-Stadt. Der Film erinnert in seiner Direktheit an die Werke des italienischen Neorealismus, unterscheidet sich davon aber durch Traumsequenzen und andere irra­tionale Momente, das Ende mutet sogar fast expressionistisch an. Für einige seiner Filme hat Buñuel selbst sehr wenig übrig, doch gerade in der Beschränkung durch Genrekonventionen oder auch der Notwendigkeit, gelegentlich mit etwas unbeholfenen Schauspielern arbeiten zu müssen, kommt oftmals eine überraschende Qualität zum Vorschein.

Insbesondere die Melodramen sind im Vergleich zum amerikanischen Kino ausgesprochen exzentrisch. »Abgründe der Leidenschaft« (1953) etwa ist eine eigenwillige Verfilmung von Emily Brontës »Sturmhöhe«, einem Roman der englischen Romantik, der auch bei den Surrealisten äußerst beliebt war. Alles ist ein bisschen zu dick aufgetragen in diesem Film: das Einbrechen der Naturgewalten, die Eskalation der Gefühle, das fast nekrophile Ende und nicht zuletzt die etwas plumpen, überbordenden Gesten der Darsteller. Doch in der Verkommenheit der Figuren, ihrer Willkür und ungezügelten Wildheit liegt etwas zutiefst Anarchisches, was alle anderen Verfilmungen dieses Stoffes seltsam brav und aufgeräumt aussehen lässt.

Nach einigen Koproduktionen mit Frankreich entstanden die Filme »Nazarín« (1958/59), »Viridiana« (1961) und »Der Würgeengel« (1962). Letztgenannter ist Buñuels surrealistischster Film aus dieser Zeit. Erzählt wird die Geschichte einer bourgeoisen Abendgesellschaft, die aus unerklärlichen Gründen den Salon nicht mehr verlassen kann, in den sie sich zu einem Klavierkonzert zurückgezogen hat. Ohne Wasser, Nahrung und sanitäre Einrichtungen beginnen die hungrigen, stinkenden und vor sich hin delirierenden Gäste ihre Fassung zu verlieren.

Die Verbindung von Begehren und Religion spielt in vielen Filmen eine wichtige Rolle – von »Susanna – Tochter des Lasters« (1951) über den Film »Er« (1953), den der Psychoanalytiker Jacques Lacan jahrelang seinen Studenten als Anschauungsmaterial für Freud’sche Theorien vorführte, bis hin zu dem satirischen Thriller »Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz« (1953). Als von seiner katholischen Herkunft geprägter glühender Atheist hat Buñuel ein ausgesprochen großes Vergnügen an jeglicher Form der Blasphemie. Sein nach langer Unterbrechung wieder in Spanien gedrehter Film »Viridiana« provozierte den größten Zensurskandal der Franco-Ära. Nachdem der Film zunächst die spanische Zensur passiert und auf dem Filmfestival in Cannes einen Preis gewonnen hatte, erreichte die vatikanische Kritik ein Verbot des Films. Die Frömmigkeit der Novizin Viridiana, ihr Umgang mit Kreuz und Dornenkrone werden in dem Film derart fetischisierend dargestellt, dass sie auch als eine etwas abgelegene sexuelle Spielart durchgehen könnten. Anstoß erregte auch das Saufgelage einer Horde zerlumpter Bettler, die an einer festlich gedeckten Tafel Leonardo da Vincis »Letztes Abendmahl« nachstellen.

Abgründe, Abweichungen und Perversionen sind in Buñuels Werk allgegenwärtig. Zu seinem Repertoire an Obsessionen und Marotten gehören unter anderem Insekten, Hühner, junge Mäd­chen und alte Männer, sakrale Bildnisse, Wasser, Fleisch und Blut. Und es gibt keinen Film, in dem nicht die Kamera ihren immer männlichen Blick auf weibliche Beine, Füße und Schuhwerk richtet. Unvergesslich ist die Begegnung der von Jeanne Moreau gespielten Célestine mit einem Schuhfetischisten in »Tagebuch einer Kammerzofe« (1964). Gelangweilt vertreibt sie dem senilen Vater ihres Arbeitgebers durch das Tragen von hochhackigen Stiefeletten die Abendstunden, bis er eines Tages tot im Bett aufgefunden wird – in der Hand eines seiner geliebten Stiefelchen.

Von nun an drehte Buñuel ausschließlich in Frankreich – er hatte große Budgets zur Verfügung, Stars und jede Form der künstlerischen Freiheit. Sein Blick auf die Sitten und Gebräuche der Bourgeoisie ist in seinen letzten, sehr eleganten Filmen wie »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« (1972) extrem scharfsinnig und präzise, wirkt aber doch eine Spur abgeklärter. Es sind vor allem die unbekannteren mexikanischen Filme, die es bei der Retrospektive der Berlinale zu entdecken gibt. In ihren Angriffen auf die christlich-bürgerliche Moral sind sie ungeschliffener und wüster, aber genau darin liegt ihr subversives Potenzial.