Mit einem Beinchen im Knast

In den Niederlanden standen lange Zeit pädagogische Ansätze bei der Kri­mi­na­litäts­bekämpfung im Vordergrund. Inzwischen setzt man auf allumfassende Prävention, beginnend im Kindesalter. Vierter Teil der Serie Jugend und Strafe in Europa von tobias müller, amsterdam

»Der ideale Tagesablauf ist so gestaltet, dass der Jugendliche derart ermüdet ist, dass es für ihn nicht mehr zur Debatte steht, Ärger auf der Straße zu machen. Der Jugendliche rollt in sein Bett und schläft ein.« Was klingt wie der Erziehungsleitfaden einer Besserungsanstalt aus dem 19. Jahrhundert, ist in Wirklichkeit hochaktuell. Es handelt sich dabei um die Zielsetzung eines »einzigartigen Experiments«, das im Januar in Amsterdam-Slotervaart angelaufen ist, einer landesweit als Problemviertel verrufenen Gegend im Westen der Hauptstadt. Im Rahmen eines so genannten »8 bis 8«-Arrangements werden rund 150 Jugendliche zwischen zwölf und 23 Jahren werktags zwölf Stunden lang in der Schule, auf der Arbeit und in der Freizeit von einem Coach begleitet. Das Projekt ist eine Koproduktion von Kommune, Polizei und der Sozialbehörde »Amt für Arbeit und Einkommen«. Verläuft die einjährige Pilotphase zufriedenstellend, soll das Modell auf andere Problemgebiete Amsterdams ausgedehnt werden.

Kaum ein Monat vergeht, in dem die Regierung und die Sozialverbände nicht vergleichbare Konzepte präsentieren, um die Jugendkriminalität zu bekämpfen. Vor allem die Zahl der Raubdelikte, die von Jugendlichen begangen werden, ist in letzter Zeit stark gestiegen. Der Anteil zwölf- bis 18jähriger Täter an Gewaltverbrechen hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt. Relativ selten jedoch werden diese Fakten durch genaue Untersuchungen untermauert. Dadurch, dass in Politik, Medien und Gesellschaft generell von »Risiko-«, »Problem-« oder schlicht »rumhängenden Jugendlichen« gesprochen wird, ergibt sich ein Mechanismus der kollektiven Bestätigung, der lautet, dass die Zeit des Laissez-faire und des Wegschauens vorbei sei.

Diese Tendenz ist Teil des konservativen Rollbacks in den Niederlanden, der sich auch in der Integrations-, Arbeitsmarkt- oder Drogenpolitik bemerkbar macht. Auf dem Gebiet der Jugendkriminalität äußert sich das in der Verbindung eines traditionell pädagogischen Ansatzes, der nach wie vor als verbaler Rahmen dient mit der neuen, härteren Gangart, die dem zero-tolerance-Konzept ähnelt. Davon zeugen eine Reihe von Gesetzesvorschlägen und Initiativen, die in diesem Winter lanciert wurden.

Anfang Februar präsentierte die Koalition aus Christen Unie, Christ- und Sozialdemokraten einen Plan, nach dem das Eigentum von Jugendlichen, die mit einem Bußgeld belegt wurden, konfisziert werden kann, wenn diese der Zahlung nicht nachkommen. Zudem soll Jugendrichtern eine größere Bandbreite von Sanktionen zur Verfügung stehen, die zwischen Bewährungsstrafen oder gemeinnütziger Arbeit und dem schwerwiegenderen Jugendarrest liegen. Gedacht ist dabei etwa an die Unterbringung in Erziehungsanstalten oder Pflegefamilien.

Die stationäre Unterbringung steht auch im Vordergrund eines groß angelegten Projekts des Ministeriums für Jugend und Familie, das bei Antritt der Regierung zur besseren Koordination der Jugendpolitik eingerichtet wurde. Unter dem Stichwort »geschlossene Jugendfürsorge« sollen bis 2010 sieben Jugendgefängnisse in Einrichtungen für Jugendliche mit »ernsten Verhaltensproblemen«, die nicht wegen schweren Straftaten verurteilt sind, umgewandelt werden. Sie bilden eine Art therapeutische Schutzzone, räumlich getrennt von den strafrechtlichen Vollzugsanstalten, »um das Leben der Jugendlichen zu stabilisieren und ihnen eine Zukunft zu geben«, wie das Jugendministerium es ausdrückt. Rhetorisch knüpft das Konzept damit an den besagten sozialarbeiterischen Schwerpunkt an. »Die verletzlichsten Jugendlichen werden zuerst in geschlossenen Jugendfürsorgeeinrichtungen untergebracht«, erklärte der zuständige Minister André Rouvoet (Christen Unie).

Dass es dabei nicht um Kuschelpädagogik geht, wird an Formulierungen wie »erzwungene Aufnahme« deutlich: »Hier können sie sich ihrer Behandlung und Erziehung nicht mehr entziehen.« Rouvoet zufolge kommen jährlich 2 500 Jugendliche für eine solche Unterbringung in Frage. Kein Geheimnis macht das Ministerium aus der Tatsache, dass darunter auch Kinder unter zwölf Jahren sein sollen, die nach niederländischem Strafrecht nicht belangt werden können.

Auch auf lokaler Ebene ist diese Altersgruppe wichtig für die Strategien gegen Jugendkriminalität. So beinhaltet das im Herbst abgeschlossene Modellprojekt »Sichere Gemeinden«, bei dem kommunale Behörden zunächst dem Innenministerium Meldung über Sicherheitsrisiken machen, um diese dann »gemeinsam« mit Jugendlichen und der Polizei zu beheben, neben Hausbesuchen von »Risikofamilien« ein Frühwarnsystem bereits in Grundschulen. Auf dieser Basis schloss die Gemeinde Arnheim unlängst ein Abkommen mit dem Innenministerium, das speziell auf die Früherkennung »risikoreichen Verhaltens« abzielt.

Ein Pressesprecher des Justizministeriums bezeichnet die unter Zwölfjährigen denn auch unumwunden als besonderen Schwerpunkt einer Präventivpolitik, die so früh wie möglich eingreifen will. Der im Koalitionsabkommen festgelegte Leitspruch »Sicherheit beginnt beim Verhindern« bekommt damit nicht nur eine tat-, sondern vor allem eine täterbezogene Dimension.

In der niederländischen Diskussion um Jugendkriminalität geht es um die gesamte Spannbreite an Delinquenz. Ähnlich der in den neunziger Jahren in den USA populären broken windows theory, nach der ein direkter Zusammenhang zwischen heruntergekommenen Gegenden und Kriminalität besteht, sind auch Ruhestörungen, das Anbringen von Graffiti, Ladendiebstahl oder das unerlaubte Zünden von Feuerwerkskörpern in den Blick der Justiz gerückt.

Beispielhaft dafür steht die Entwicklung eines der klassischen erzieherischen Elemente im niederländischen Jugendstrafrecht: Wer bei einer der genannten Tätigkeiten erwischt wird, kann einer strafrechtlichen Verfolgung durch eine so genannte HALT-Reaktion entgehen. Diese wird von der zuständigen Zweigstelle des HALT-Netzwerks, das der Staatsanwaltschaft unterstellt ist, zum »Abtragen« der Schuld festgelegt und beinhaltet gemeinnützige Arbeit, Schadensvergütung oder eine Entschuldigung beim Opfer. HALT wurde im Jahr 1981 konzipiert als »Schnittstelle zwischen Prävention und Repression«, jedoch ins Strafgesetzbuch integriert, und mit der Annäherung von Zivil- und Strafrecht rückten auch Präventions- und Repressionsmaßnahmen näher zusammen.

Zudem wurde Schulschwänzen in die Gruppe der HALT-Delikte aufgenommen. Jährlich landen nun rund 1 000 Jugendliche wegen Unterrichtsversäumnissen in einer solchen Maßnahme. Seit 2001 besteht unter dem Namen STOP ein entsprechendes Programm für unter Zwölfjährige, in das die Eltern stark einbezogen werden.

Welche Eigendynamik der Ansatz der maximalen Prävention mitunter annimmt, zeigte sich unterdessen im Frühjahr 2007, als Polizisten in der Provinz Südholland systematisch Fotos von »rumhängenden Jugendlichen« machten und deren persönliche Daten im Auftrag der zuständigen Staatsanwaltschaft speicherten. Versteckt hinter Autos und mit Hilfe von Teleobjektiven wurden auch Jugendliche abgelichtet, die einem Foto nicht zugestimmt hatten. Kritik aus datenschutzrechtlichen Gründen begegnete die Polizei lapidar mit dem Hinweis, es handele sich um eine »Maßnahme zum Schutz der öffentlichen Ordnung«.