Strategie der Spaltung

Im Kosovo-Krieg 1999 ging die EU erstmals militärisch gegen nationalstaatliche Grenzen vor und schuf mit dem Protektorat Kosovo eine ethnisch weitgehend homogene Region. Den Flüchlingsstrom nach Westeuropa hat die EU damit stoppen können, doch das kosovarische Erfolgsmodell stellt sich für manche EU-Staaten als Bedrohung dar. von anton landgraf

Als Ministerpräsident Hashim Taci am Sonntag vor den Abgeordneten im Parlament von Pristina die Unabhängigkeit des Kosovo erklärte, fügte er hinzu: »Wir marschieren in Richtung Europa.« Etwas anderes wird ihm auch kaum übrig bleiben, denn ohne Unterstützung der Europäischen Union wird der neue Kleinstaat nicht existieren können. Zwar haben rund 17 Staaten der EU bereits am Montag eine schnelle Anerkennung des neuen Staates in Aussicht gestellt, vorneweg Frankreich und Großbritannien, aber es gibt auch Gegner einer solchen Anerkennung, vor allem Spanien und Zypern. So kam es denn auch zu einer sehr vage formulierten Abschlusserklärung der EU-Außenministertagung zum Kosovo.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die EU um den Status der serbischen Provinz streitet. Wie kaum ein anderes Thema hat dieser Konflikt das Selbstverständnis der EU geprägt. Und sicherlich bedeutet die am vergangenen Wochenende proklamierte Unabhängigkeit nicht das Ende der Debatte, die in den vergangenen zehn Jahren um die Krisenregion geführt wurde.

Noch bis spät in die neunziger Jahre definierte sich die Union hauptsächlich als gemeinsame Wirtschaftszone. In vielen Bereichen, wie etwa in der Verteidigungs- und Außenpolitik, blieb die nationale Souveränität weitgehend unangetastet. Das änderte sich, als mit dem Krieg im Kosovo klar wurde, dass die geplante Eurozone dauerhaft nur erfolgreich sein kann, wenn die Union auch außenpolitisch und militärisch handlungsfähig würde. Der Bürgerkrieg vor der eigenen Haustür und die damit verbundenen Flüchtlingsströme gefährdeten nicht nur die innenpolitische Stabilität in vielen EU-Staaten. Er zeigte vor allem, dass die Union nicht in der Lage war, auf die geopolitischen Konflikte nach dem Ende des Kalten Kriegs angemessen zu reagieren.

Der 1999 in Köln abgehaltene EU-Gipfel markierte daher eine Zäsur, als die Staats- und Regierungschefs beschlossen, eine gemeinsame Eingreiftruppe aufzubauen – und künftig nicht mehr ausschließlich auf der USA und der Nato zu vertrauen. »Gestützt auf ein glaubwürdiges Militärpotenzial« müsse die Union die »Fähigkeit zu autonomem Handeln« erlangen und »entsprechend den Erfordernissen des jeweiligen Falls (…) die Mittel und die Bereitschaft besitzen, diesen Einsatz zu beschließen«, hieß es damals in der Erklärung, die den Gipfel beendete.

Und noch eine zweite, wichtige Entscheidung wurde in Köln getroffen, um die Krise auf dem Balkan in den Griff zu bekommen: Die EU war nun bereit, die Türkei als Beitrittskandidatin zu akzeptieren – und damit eine radikale Wende in ihrer Südosteuropa-Politik einzuleiten. Nur ein Jahr später begannen die Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien.

Bei der Realisierung ihrer ehrgeizigen Pläne kommt die EU heute zwar nur langsam voran – die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erweisen sich ebenso wie der Aufbau einer gemeinsamen Armee als mühsam. In Südosteuropa hat die EU hingegen einige Ziele erreicht. So sind die meisten Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder in ihre Herkunftsländer abgeschoben worden, und ihre wichtigsten Transferrouten sind unter anderem mit Hilfe des Schengener Abkommens mittlerweile versperrt. Mit der Unabhängigkeit des Kosovo kann Deutschland nun mit den Sinti und Roma auch die letzte größere Flüchtlingsgruppe ausweisen.

Der Union ist es damit gelungen, den außer Kontrolle geratenen Konflikt wieder zu begren­zen. Allerdings nur um den Preis, dass sich die ursprüngliche Legitimation in ihr Gegenteil verkehrt hat. Schließlich hatten die EU-Staaten – allen voran die rot-grüne Regierung in Berlin – die Intervention mit dem Verweis auf die Menschenrechte gerechtfertigt. Die Aufgabe der Bundeswehr umfasse nicht mehr »nur den Schutz der Bundesrepublik«, hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Besuch in Prizren im Juli 1999 erklärt, sondern auch die »Verantwortung für die Menschenwürde«. In einer Art sozialdemokratischer Dialektik wurde durch die Intervention ein weitgehend ethnisch homogener Staat geschaffen, der in vielen Bereichen den zivilisatorischen Standards widerspricht, die mit dem Krieg eigentlich durchgesetzt werden sollten.

Und auch an einem anderen Problem hat die Intervention nichts geändert. Das Kosovo ist nach wie vor eine der ärmsten Regionen in Europa. So könnte sich die Freude über die Unabhängigkeit bald legen, denn als zählebiger als die nationalistische Euphorie dürfte sich die ökonomische Realität erweisen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50 Prozent, die politische Elite gilt als korrupt, das Bildungswesen ist katastrophal, und auch neun Jahre nach Kriegsende gibt es keine verlässliche Stromversorgung.

Vor allem aber fehlen Investitionen, denn ohne einen souveränen Status erhielt das Kosovo bislang keine Kredite von internationalen Finanzinstitutionen – und ohne »klare Verhältnisse« kommen auch keine ausländischen Investoren. Viele Familien können nur durch Überweisungen der Arbeitsmigranten überleben, die häufig illegal in Deutschland, Frankreich und in jüngster Zeit auch in Rumänien beschäftigt sind. Ein Visa- und Arbeitsabkommen mit den EU-Ländern dürfte daher zu den ersten Zielen gehören, die die Regierung in Pristina anvisieren wird. Vielleicht schrauben dann in einigen Jahren kosovarische Leiharbeiter Mobiltelefone in Rumänien zusammen. Den dortigen durchschnittlichen Monatslohn von 300 Euro könnten sie jedenfalls schon jetzt problemlos unterbieten.

Wer sich mit diesem Schicksal nicht abfinden möchte, dem bleibt nur eine Beschäftigung in den wenigen prosperierenden Branchen. Dazu gehört neben Geldwäsche und Drogen vor allem der Waffen- und Frauenhandel. Einem Bericht von Amnesty International zufolge hat sich das Kosovo in den vergangenen Jahren zu einer Drehscheibe für den Export von Zwangsprostituierten aus Osteuropa entwickelt. Die dabei erzielten Umsätze machen mittlerweile nach Schätzungen bis zu einem Viertel des Bruttosozialprodukts aus. Auch für diese Geschäfte finden sich die wichtigsten Handelspartner in Europa.

Keine Frage, mit der Unabhängigkeit transformiert sich zunächst nur die Abhängigkeit: Aus dem ehemaligen Protektorat wird ein Staat, der vollständig von der EU abhängig ist. Langfristig, so hofft man in Brüssel, lässt sich aber ein unabhängiges Kosovo effektiver disziplinieren als durch die Zwangsverwaltung. Um Mitglied der EU zu werden, wird man in Pristina früher oder später die europäischen Spielregeln akzeptieren.

Dass die neue Souveränität nicht das Kosovo stabiler, sondern Europa fragiler machen wird, befürchten viele EU-Mitgliedsstaten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind in Europa keine Grenzverläufe gegen den ausdrücklichen Willen der betroffenen Staaten verändert worden. Das Kosovo hat nun bewiesen, dass ein militanter Separatismus durchaus erfolgreich sein kann.

Potenzielle Nachahmer gibt es in den EU-Mitgliedsstaaten mehr als genug. So fürchtet man in Griechenland die Auswirkungen der Unabhängigkeit des Kosovo, weil »die albanische Bevölkerung in Mazedonien dem Beispiel der Kosovaren folgen und ihre eigene Unabhängigkeit oder den Anschluss an das Kosovo fordern« könnte, wie die Athener Zeitung Kathimerini kommentierte.

Auch der griechische Teil von Zypern hat die Abspaltung des Kosovo von Serbien abgelehnt. In Nikosia sorgt man sich, dass nun auch die türkische Republik im Norden der Insel einen eigenen Staat proklamieren könnte. Bislang wird sie nur von der Regierung in Ankara anerkannt.

In Rumänien bestehen ebenfalls Vorbehalte gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo, weil dadurch die Autonomiebestrebungen der 1,5 Millionen Ungarn in Siebenbürgen gefördert werden könnten. Bereits am Montag haben die Präsidenten Abchasiens und Südossetiens angekündigt, sich in »nächster Zeit« von Georgien lösen zu wollen. Der Präsident Transnistriens sprach von einer »neuen Zeitrechnung« in den internationalen Beziehungen.

Was passiert, wenn Russland diese Regionen offiziell als Staat anerkennt? Dann könnten neben der ungarischen Minderheit in Rumänien auch die Ungarn in der Slowakei mehr Autonomie fordern, die dort immerhin zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die slowakische Regierung legte daher Wert auf eine Erklärung der EU, wonach im Kosovo »kein Präzedenzfall« für andere Regionen geschaffen wird.

Auch weiter westlich hält sich die Begeisterung in Grenzen. »Die Unabhängigkeit des Kosovo wird eine Tür öffnen, die bislang verschlossen war«, schrieb die spanische Zeitung ABC. »Ein unabhängiges Kosovo wird den baskischen und katalanischen Separatisten als Vorwand dienen, für sich das Selbstbestimmungsrecht zu verlangen«, prophezeit die Madrider Zeitung El Mundo. Und tatsächlich sprach die baskische Regionalregierung am Sonntag mit Blick auf das Kosovo bereits von einer »beispielhaften Lösung«.

Dass auch in Westeuropa die Zeit des Nationalismus und des regionalen Separatismus noch lange nicht vorbei ist, zeigt die Situation in Belgien. Dort hat der Konflikt zwischen der flämischen Region und den französischsprachigen Gebieten dazu geführt, dass sich das Land in einer Dauerkrise befindet. Vielleicht gibt es auch im alten Europa bald ein paar neue Staaten. Keine Frage, das Kosovo hängt von Europa ab. Gut möglich aber, dass der Einfluss auch umgekehrt funktioniert.