Wasser! Wasser!

Hartmut Bitomskys Dokumentation »Staub« nähert sich dem Phänomen naturwissenschaftlich, technisch, objektiv. Sie zeigt den Staub als Anfang und Ende der Evolution und den Staub im Film. Aber sie liebt ihn nicht. von stefan ripplinger

Vergänglichkeit kommt einem in den Sinn, wenn von »Staub« die Rede ist, Tod, zerfallende Mumien, das Aschenkreuz, die Grisaille, Giacometti, die Staubzucht von Du­­champ und Man Ray, Trockenheit, Pedanterie, langweilige Lektüren, Rilkes »zur Flamme wird der Staub«, Metaphern des Leeren von Edmond Jabès, Lawrence von Arabien, Stroheims »Greed«. Nichts davon kommt in dem Film »Staub« von Hartmut Bitomsky vor.

Dieser Film ist ein großer Staubsauger. Er saugt Staub an, entfernt ihn aber auch. Was im Bedeutungshof schillert, interessiert ihn nicht im mindesten, was sich auf dem Begriff abgesetzt hat, wischt er weg, er will wissen, was das ist, Staub. Partikel, ja, aber aus was zusammengesetzt? Wie groß? – Nein, wie groß ganz genau. – 100 Nanometer bis 20 Mikrometer, sicht­bar sind Körner ab etwa einem Zehntel Millimeter. – Danke. Welche Farbe? Woher kommt er? Ist er giftig? Wieviele Arten von Staub gibt es? Hausstaub, Industriestaub, mineralischer Staub, Normstaub, Prüfstaub, Feinstaub, was noch? Weshalb mögen wir ihn nicht? Wie wird er entfernt? Wie lange dauert es, ihn zu entfernen? Allesamt praktische Fragen. Zwei Meteorologen, eine Epidemologin, einige Astronomen, etliche Chemiker, eine Restauratorin, ein Staubsaugerhersteller, eine Hausfrau und viele mehr beantworten sie. (Wer den Anfang von Uwe Nettelbecks »Fantômas« gelesen hat, wird allerdings einen Spurensicherer vermissen.)

Es scheint, dass die Kamera von all diesen Antworten überrascht ist. Sie schwenkt langsam, fast ungläubig, vom Interviewpartner zum Objekt und zurück. Und der in technisch-naturwissenschaftlichen Dingen Unkundige staunt mit. Ohne Staub, erfährt er, keine Wolken, keine Farben am Himmel, keine Farbe auf Bildern. Ohne Staub keine materielle Welt.

Weil Staub der feinste Abrieb aller Gegenstände ist, ihr gerade noch sichtbares Zerfallsprodukt, haben die Atomisten geglaubt, aus ihm sei alles gemacht, er sei der »Urstoff« oder ähnele ihm doch wenigstens stark. Staub ist der Stoff in Bewegung, der Stoff in nascendi. »Lass in ein dunkles Zimmer einmal die Strahlen der Sonne/Fallen durch irgendein Loch«, empfiehlt Lukrez, »und betrachte dann näher den Licht­strahl: / Du wirst dann in dem Strahl unzählige, winzige Stäubchen / Wimmeln sehen, die im Lee­ren sich mannigfach kreuzend vermischen. / (…) Daraus kannst du erschließen, wie jene Erschei­nung sich abspielt, / Wenn sich der Urstoff stets im unendlichen Leeren beweget.« Er beschreibt damit auch ein Phänomen im Kinosaal. Jedenfalls kann jeder, der nicht auf die Leinwand, son­dern auf den Lichtkegel des Projektors achtet, in ihm Staub tanzen sehen.

Während Staub für die einen nichts als ein Zeuge des Zerfalls ist, ist er für die andern, gerade im Gegenteil, Urstoff, Bewegung und Entstehung aller Dinge. Die einen wollen mit dem Staub den Stoff demütigen, die andern mit dem Staub den Stoff feiern. Die einen, das sind die Christen und Platonisten, die andern die Aristoteliker und Materialisten. Georges Didi-Huber­man, der mir manchmal wie der Aristoteliker unserer Tage vorkommt, schreibt: »Der Staub erlaubt es, die Welt zu denken.«

Von alldem ist bei Bitomsky keine Rede, und doch nimmt er von Anfang an Stellung. Auch ihm gilt Staub als die Schwelle, »an der die Welt sichtbar zu werden beginnt«. Wenn es einen Atomismus in der Ästhetik gibt, dann ist Bitoms­ky sein hervorragender Vertreter. Als kleinsten Bestandteil des Films, sein primitive, sieht er nicht den Kader, den Schnitt, das Zeichen, sondern das Filmkorn auf dem Streifen und das Staubkorn in der Luft. Bitomsky handelt von Stoffen, nicht von Schemen. Er meidet das re­ligiöse Vanitas-Motiv gründlich, und wenn er Kunstwerke zeigt, dann meist nur als beliebige Objekte, Staubfänger, die von Konservatoren ab­gepinselt werden. Wie Künstler aus Staub etwas machen, was er nicht ist, etwas Nichtstoffliches, eine Metapher, eine Vorstellung, inter­es­siert ihn, von einer einzigen Ausnahme – Kino – abgesehen, nicht.

Bei so viel Diesseitigkeit umso überraschender, dass sich in die Kommentare ein Ton der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit mischt. Deut­lich vernehmbar wird er, nachdem eine Staub-Philosophin zu Worte gekommen ist. Sie nimmt den Staub ernst, klassifiziert ihn wie Linné, lässt ihn in »Schneewittchensärge« aus Gießharz ein, beschreibt liebevoll die unterschied­liche Konsistenz von Flusen und Filamenten, nennt Staub eine Proto- oder Phantommaterie, beobachtet hingerissen die »Evolution unterm Bett« und die »personal cloud« um uns her, als ob ein jeder der kleine Pigpen aus den »Peanuts« wäre, und erkennt, dass Staub un­serer Anwesenheit bedarf, um zu entstehen, und unserer Abwesenheit, um zu wachsen. Staub hält sie nicht für eine »unerwünschte Materie«; er ist ihr ein Schatten, der uns begleitet und den wir lieben lernen sollten.

Noch während sie spricht, widerspricht ihr Bitomsky, indem er einen Filmstreifen zeigt, den Staub zerfrisst. Staub setzt sich an die Stelle des Bildes und lässt es schließlich erodieren. Ist Staub die Schwelle des Sichtbaren, sorgt er zugleich für das Unsichtbar-Werden. Ein apokalyptischer Ton schleicht sich in der zweiten Hälfte der Dokumentation ein, von Uranstaub kontaminierte Soldaten, krebsbringender Asbest- und Feinstaub, der Staub des 11. September und der Müll, den er barg und in die Lungen trug, der Blutregen, den der Sand der Sahara gefärbt hat, die Wolken über dem Braunkohleabbau, die Wolken über einer gesprengten Wohnanlage im Pott. Wer aus dem Kino tritt, beginnt unwill­kürlich zu husten.

Das ist die zerstörerische Macht des Staubs, die »Spur der Verneinung«, die er zieht. Die Putz­frauen, die an ihren verschiedenen Arbeitsplätzen im Kampf gegen den Staub gezeigt werden, der Staubsauger-Ingenieur, die neurotische Hausfrau haben so allesamt etwas von Sisyphos. Siegten sie eines Tages über den Staub, wären sie ihre Arbeit und ihren Spleen los. Aber der Sieg ist ganz ausgeschlossen. Bitomsky erinnert mit Raymond Queneau daran, dass stets ein Rest bleibt. »Staub« hat manchmal etwas von einem Horrorfilm. Wann immer Dracula für überwunden gehalten wird, steht er auch schon wieder fletschend hinter der Tür.

Vergänglichkeit und Vergeblichkeit kehren wie­der, doch sind sie hier streng materialistisch abgeleitet. Die physikalisch-chemische Qualität der Partikel, ihre Entstehung in Industrie, Ver­kehr und Krieg, ihr »Ferntransport« oder »Export«, wie die Meteorologen, als wären sie Schaff­ner oder Schiffsmakler, sagen, sorgen für die verheerende Wirkung des Staubs. »Staub« ist kein Film, der Staub liebt. »Staub« ist auch kein Film, der viel Staub zeigt. Er zeigt zwar den Staub, sobald er Sand ist, in Tierfutter- oder Kalkfabriken, er zeigt ihn als Düne oder als Wolken, die sich über dem Ort der Zerstörung wie Königinnen in ihren Reifröcken erheben. Die Innenräume, die die Kamera betritt, sind allesamt fast klinisch rein. »Staub« ist ein materialistischer Film, doch der Staub will sich selten materialisieren.

Am Anfang und am Ende erscheint er, und dann doch in der Kunst, der einzigen, der Bitoms­ky huldigt, im Kino. Er zitiert die Staubstürme in Victor Sjöströms »The Wind« (1928) und schließlich den von Wagenrädern und Pferdehufen aufgewirbelten Staub in John Fords »Wagon Master« (1950). Die Sons of the Pioneers singen »Shadows in the Dust«. Dann erscheint Harry Carey Jr. am Horizont, schwenkt seinen Hut und ruft: »Water yonder!«, »Wasser! Wasser!« In welche Erregung dieser Ruf den Treck versetzt, wie er in einer Stampede vom Staub weg, aufs Wasser zu galoppiert, lässt Bitomsky aus. Aber es ist auch so unmissverständlich, dass sein Film vom Staub weg will. Dem Staub ist nicht zu entkommen, aber lieben muss einer ihn deshalb noch lange nicht.

»Staub« (BRD/CH 2007). Buch und Regie: Hartmut ­Bitomsky. 92 Min.