Wie man es haben mögen sollte

Germar Grimsen liest Johann Heinrich Mercks Briefwechsel

Herr Merck hat mal eine Frage, 1781, sie betrifft das Warum von einer leider höchst betrübten Erfahrung. Ich habe noch neulich die Beobachtung gemacht, daß die meisten Poeten traurig, träge, und mißvergnügt (…)  sind (…) mißvergnügt mit dem Lande wo sie wohnen, noch mißvergnügter mit dem Herrn, ders regiert, und am mißvergnügtesten mit dem was ihnen am liebsten seyn sollte, mit der Haut die sie umgiebt, oder wie mans nennt, mit ihrer eignen Situation. Sie gehen herum abgespannt und kraftlos, dumpf und niedergeschlagen, wie Menschen die entweder durch Leiden oder Freuden sich erschöpft haben (…).  Einen geheimen Gram merket man ihnen auch oft an, daß sie die Sünde nicht so gut fortsetzen können wie sie wünschten. Denn sie weisen oft einzelne Arme und Beine vor, von dem Körper, den sie noch zusammensezen wollen und wovon seit Jahren das Ideal in ihren Köpfen steht, ohne sich zu rühren. Ist nicht Poesie wie Schwimmen und bleibt? Nein. Ist sie nicht, tut sie nicht. Sie ist wie die Liebe: kann nicht dauern, kostet Zeit, Geld, und wenn am Ende die Obrigkeit sich einmischt und man nicht an Universitäten nistet – o je. Den Poeten geht ihr Haß gegen die Prosa so weit, daß sie keine Quittung schreiben, wenn man ihnen Geld schikt. Nun Wirklichkeit aber ein Pseudonym der Prosa ist, naht den Poeten wenigstens Hilfe? Bekommt man sie von der Straße? Jep. Die großen Herren machen überall milde Stiftungen für Personen, die nicht arbeiten können, wie Fündlinge und Fräulein, warum sollte man nicht ein Poeten-Stift errichten können? Man schaffe nur Rasenplätze, freye Luft, Schatten und gutes Essen und Trinken und sie werden dem Umgang mit der Welt, besonders mit geschäftgen Leuten, die sie ohnedieß von Herzen verachten, gern entsagen. Und da sie keinen Obern erkennen: so wäre wol der Vorgesetzte aus dem Prosaischen Stande zu wählen; in dem die Politiker längst als ausgemacht angenommen haben, daß der blindeste Gehorsam bey der herzlichsten Verachtung desjenigen der zu befehlen hat, gar wohl bestehen kann. Gute Frage.

Warum soll jemand, der weder beruflich, obsessiv, noch aus unbekanntem Grund im 18. Jahr­hundert siedelt, Merck lesen – zumal die Geduld, die bedenkt, dass wir in allen Bedingungen mehr in jenem wurzeln, als in einem andren, abhanden ist? Schlechte Frage, denn die Antwort beschämt: Weil Merck mehr als wir selbst einer von uns ist, einer, der den »Körper ideal zusammengesetzt« hat, ein Querstauner, der sich Welt erwirtschaftet, nobel, klug, kaustisch, notorisch enttäuscht und angestrengt bis an genau die Grenze, an der man sich überlegt, ob man den Abzug betätigt.

Merck hat das getan. Am 27. Juni 1791 in Darmstadt.

Darmstadt 1741: 9 000 Einwohner halten sich einen erzunbegabten, militärnärrischen Grafen Ludwig. Und eine Engel-Apotheke.

Der Apothekervater stirbt Tage vor Mercks Geburt, und der Tod ist der Hauch, der den Sohn vaterlos durch die Welt treiben wird. Mit elf stran­det Merck an der Pietistenanstalt Pädagog, lernt dort Sprachen und Gott und immerhin: findet im neun Monate jüngeren, gleich ihm vaterlosen Mitschüler Lichtenberg einen Spielkameraden für die Große Pause – beide werden einander nicht aus den Augen verlieren.

Das Pädagog erlegt allen Alumni auf, nahtlos ein Studium aufzunehmen. Dass sie nicht »ein halb oder ganzes Jahr mit dem Degen hier herumgehen und das, was sie gelernet, in denen faulen Tagen wieder vergessen«. Also wird ­Merck ab 1757 auf Universitäten gespült und hört stöhnend Theologie. Zwar fehlen Briefe aus jener Zeit, der Kosmos aber, den Merck in sich bildet, lugt hervor: Merck übersetzt Essays der schottischen Aufklärung, eine Tragödie aus dem Swift-Umfeld und 1765 »Herrn Thomas Shaws, königl. Professors der griechischen Sprache … Reisen oder Anmerkungen verschiedene Theile der Barbarey und der Levante betreffend« – die interdisziplinäre Summa zwölfjähriger Streifzüge, strotzend vor Beobachtungen zu Mumien, Münzen, Musik, Petrefakten, Korallen, Geognosie und 140 erstbotanisierten Pflanzen.

Merck wird Studienabbrecher und Kenner Albrecht Dürers, hofmeistert ein wenig und begegnet am Genfer See der forschen Louise Françoise Charbonnier. Hier hebt der Briefverkehr an. Schwanger ist Louise, Hochzeit 1766 dann auch. Das Paar wohnt in Darmstadt, Merck tritt eine mäßige Stelle am Hof an, erleidet mäßige Beförderung … Darmstadt! Der jungen Frau ward übel, und dem jungen Mann nicht wohl. Louise langweilt sich in der Wüsteney, spricht kein Deutsch, Föten gehen ab, sieben Kinder werden in die Welt fahren und eine Weile überleben, vier wird Merck sterben sehen, Franzi (1775 bis 1776) wird nicht von ihm sein. Merck wird’s wissen. Darmstadt auch.

Der blöde Graf hat eine nette Gräfin. Die liebt es, bei Merck Englisch zu lernen und empfindsam den Parasol durch Gärten zu tragen. Oft muss Merck mit. 70/71 wird er freund mit den üblichen Verdächtigen, Johann Gottfried Herder, Friedrich Nicolai, Christoph Martin Wieland, später Michael Reinhold Lenz. Aus Frankfurt reitet öfter mal Freund Johann Wolfgang von Goethe herüber: ein schwarzes Kapitel in der histoire de l’amitié (Goethe wird 1797, wie Herder schon 1773, Mercks Post verbrennen). Umso betörender und stählerner das Gespann Merck-Wieland. In 142 familiären Briefen ventilieren die zwei jeden Winkel von Tagesgeschäft, Kritik und Kultur.

Merck schlägt nun publizistische Funken: ein paar derbgereimte Satiren, Fabeln, Prosa, zweihandvoll Titel, die er auf eigene Kosten verlegt (ein Lenz-Text darunter und fünf Schriftlein Goe­thes), Aufsätze, Neuauflagen einer »Rußischen Geschichte«, einer illustrierten linneischen Botanik – und avanciert zum genial mutigen Chefrezensenten des Sturm und Drang. Kein gutes Journal, an dem er nicht mittut, und liebte Wieland ihn nicht eh: für das Vierteltausend Beiträge, das Merck Wielands Teutschem Merkur beisteuert, tät er’s.

1773 muss Merck nach Russland, dem Zarewitsch ein Darmstädter Prinzesschen zuzuführen. Sie hat in meinen Augen keinen andern Fehler als daß sie eine Princessin ist. Aber und wichtiger: In St. Petersburg lernt er Denis Diderot kennen und besieht das Naturalienkabinett des Leibarztes der Zarin, Karl Friedrich von Kruse.

Alas! Daheim stirbt empfindsam die Gräfin, 1774. Merck will fortan nur noch weg. Am liebsten, mit Goethes Abgang, nach Weimar. 1783, grad den 6jährigen Karl begraben, an Anna Amalia: Zuweilen gestehe ich, daß ich geneigt bin, gegen die Schläge des Schicksals zu murren, indessen schweige ich bald wieder, wenn ich den unvorhergesehenen Genuß berechne, der uns ohne unser Wissen u. Willen bereitet ist, oder bereitet werden wird. Ich denke ich mag aus der Welt gehen, wenn und Wie ich will, so wird mich immer das Andenken einiger der besten Menschen begleiten, und dieß ist schon genug, das Andere mitzunehmen, was man Sorgen u. Kummer nennt (…) Der hiesige Aufenthalt ist freylich für einen Menschen meiner Art etwas schrekliches. Von unsrer Administration ist auf ein Jahrhundert nichts kluges zu erwarten (…) Alles ist hier weder Gut noch Böse, sondern schwankt im Raum der Zeiten ohne Absicht u. Endzwek, nach allen Vier Winden. Niemand hat Plan noch Aussicht, weil das Ganze keinen hat, u. so reicht ein Tag dem andern die Hand. Wie? Er kommt nicht fort, wo Weimars Herzogpaar, mit dem der Schriftwechsel 156 Briefe umfasst, ihn gern nähm? So ist es. Denn am Frauenplan sitzt Goethe und beteuert, alte Bäume verpflanze man nicht mehr.

Merck wirft sich auf das, was der hundetummsten Gesellschafft in Darmstadt am Fernsten scheint: Fossilien. Die sammelt er nun und bringt die nachmalige Paläontologie voran (»Lettre (…) sur les os fossiles d’éléphans et de rhinocéros, qui se trouve dans le pays de Hesse-Darmstadt«, an die Messieurs de Cruse und ­Georg Forster), denn sein Forschen ergibt, dass es nichts ist mit der Schönheit der Formen: Eine jede war geworden aus Not und allein gerichtet aufs Fressen. Johann Jakob Kaup – auch er vorgeburtlich ohne Vater, auch er am Pädagog – wird Merck ein Denkmal setzen und 1841 eine weggestorbene Nashornsorte »Rhinoceros Merckii« nennen.

1782 steht Merck mit Europas Osteologen in Verbindung und lenkt Goethes Blick auf die letzte anatomische Bastion Gottes, die offene Wunde im neu aufziehenden Weltbild: den Zwischenkieferknochen. Der soll dem Menschen fehlen, das soll ihn auszeichnen vor den Restgeschöpfen. Goethe will den Knochen suchen, fordert von Merck alles Material und merkt darüber nicht, daß Felix Vicq-d’Azyr ihn bereits gefunden hat. Na, er merkt’s schon. Aber sagt’s nicht.

Gelegentlich sucht Merck ein Zubrot, ob als Kunst-, ob als Weinhändler oder Betreiber einer Druckerei. Auch verstrickt Merck, um Wohlfahrt besorgt, sich in eine Spinnerei, in der Waisen arbeiten. Da kommen in Jahresfrist schwere Schulden. Merck schreibt einen Brandbrief an Goethe, fällt darin ins »Sie«, Goethe aber erfreut ihn mit Mitteilungen goetheschen Glücks. Goethes Herzog hilft, doch die Kalamität verpufft ohnedies.

Der alte Ludwig stirbt, der neue schickt ­Merck 1791 auf Spionage nach Paris. Besten Dank. 20. Januar ist Merck vor Ort. 25. Januar an einen Darmstädter Bibliothekar: Was soll ich Ihnen von Allem dem was mich jetzt umgiebt, sagen? Alles was wir von Anfang der Dinge wünschten ist wahr – u. das andere alles erlogen u. mit den Farben gemahlt, die man bestellt hat (… ) Paris aber übertrifft alle Erwartung an Ganzheit der Gesinnungen, an Grösse der Bilder, an Festigkeit des Ausdruks an Durst nach Wahrheit, Tugend, Menschen Gefühl (…) der Club des Jacobins … enthält alle Leute von Genie, u. warmen Herzen. Hier ist der Ort wo der Grundstein zum Wohl der Nation u. vielleicht das Universum bereitet wird – auf Anraten Jacques-Louis Davids nehmen die Jakobiner am 26. Merck als einen der ihren auf. Bester Dinge kehrt Merck nach Darmstadt zurück. Dort aber sammelt sich Frankreichs Adel und sinnt, dem Bourbonen-Ludwig mit Kanonen beizuspringen. Den eigenen »Körper ideal zusammengesetzt« gesehn, weigert sich Merck, ihn wieder zu demontieren. Für ihn ist dann der 27. Juni. Anders Goethe. Der reitet 1792 munter gegen die Revolution.

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Für 148 Euro sind fünf karminrote Leinenbände unser, 3 300 fadengeheftete Seiten, 1 004 Briefe, 134 erstmalig zu lesen: ein Buchmonument aus dem Hause Wallstein, das alle Mühe um den Briefwechsel Mercks, die 1835 begann, final überbietet – würdig eines Mannes, der nichts weniger war als bloß goetheverschattete Figur, eines Mannes, der vor der Blaupause Darmstadt mit Briefen notankerte, unbeschadet, dass Merck meinte, je näher er jemandem sei, je weniger schriebe er ihm, es sei denn Frachtbriefe.

Auch Herausgeberin Ulrike Leuschner, der nach ihrem Verdienst um Friedrich Müllers »Faust« nun endgültig auf dem Olymp der Editoren ein Platz bereitet ist, hat einen Körper ideal zusammengesetzt: einen Textkörper, wie man ihn haben mögen sollte. Sieben Jahre hat sie gebraucht, in vier Bänden Briefwechsel jeden Buchstaben diskret zu rechtfertigen und selbst die leiseste Allusion zu kommentieren, Band 5 aber vorzubehalten einem hundertseitigen Essay, der die Hauptkorrespondenzen beleuchtet, 35 Seiten Merck-Bibliografie, 70 Seiten Literaturverzeichnis und mit 150 Seiten Register, das den Corpus vollends erschließt.

Die Korrespondenz mit rund 150 Briefpartnern in Europa umfasst über 1 000 Briefe aus 27 Jahren. Der Kommentar beleuchtet die kulturhistorischen und sozialen Hintergründe der verhandelten Ereignisse. Herausgegeben von Ulrike Leuschner in Verbindung mit Julia Bohnengel, Yvonne Hoffmann und Amélie Krebs. Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 5 Bände, 3306 Seiten, 148 Euro.

Wir brauchen kaum noch eine Merck-Biografie. Wir brauchen eigentlich nur diese kritisch edierten Briefwechsel Mercks. Was wir aber noch bräuchten, Frau Leuschner: Mercks Schriften. Von Ihnen betreut. Und wenn es Ihnen noch einmal sieben Jahre abverlangte.