Die Schweiz, der Lieblingsgegner

Das eidgenössische Fußballteam war immer zur Stelle, wenn niemand sonst gegen deutsche Kicker spielen wollte. Gewonnen haben aber meistens die Deutschen. von ralf höller

Es »gehöre zum deutschen Spießertraum, dass die Schweiz als politisches Idyll fernab aller Probleme existiere«, schrieb einmal der in Luzern geborene Schriftsteller Peter Bichsel. Den bislang nicht gerade mit Progressivität in Erscheinung getretenen Herren vom Deutschen Fußball-Bund hat die Schweiz diesen Traum schon öfters erfüllt. Dabei begann die Liaison wenig verheißungsvoll.

Vor 100 Jahren, am 5. April 1908, trafen sich die Kicker beider Verbände in Basel. Es war das erste offizielle Länderspiel einer deutschen Fußball-Nationalmannschaft und ging gleich mit 3:5 verloren. War es das Ergebnis eidgenössischer Fußballkunst oder teutonischen Starrsinns? Als einem günstigeren Resultat gewiss nicht förderlich stellte sich das Beharren sämt­licher fünf DFB-Regionalverbände heraus, mindestens einem Spieler aus ihren Reihen einen Einsatz in jenem Länderspiel zu garantieren. So mussten einige talentiertere Akteure draußen bleiben.

Doch lernte man beim DFB schnell. Die nachfolgenden vier sieglosen Spiele gegen England (zweimal), Österreich und Ungarn mit einem Torverhältnis von 6:20 bewogen die Funktio­näre, es doch noch mal gegen den eigentlich netten Nachbarn zu versuchen. Tatsächlich glückte den Trägern des DFB-Trikots am 3. April 1910 mit einem 3:2 wiederum in Basel der erste Sieg überhaupt.

In den ersten sechs Jahren, so verrät die Statistik, gewann die Elf mit dem Reichsadler auf der Brust von 30 Ländervergleichen gerade mal sechs – viermal gegen die Schweizer. Dennoch leistete der Fußball nach damaliger Ansicht gute Dienste für das nationale Bewusstsein aller Deutschen, wie der DFB nicht müde wurde zu betonen: »Jahraus, jahrein haben wir schon gekämpft, in den mehr als zwei Jahrzehnten deutscher Fußballgeschichte. Nun kommt der große, der wahre Kampf.«

Gemeint war der Erste Weltkrieg, dessen Anfangserfolge auch die norddeutsche Sektion des DFB in Begeisterungstaumel versetzte. Martialisch versuchte man, des Kaisers Soldaten Mut zu machen und den eigenen Anteil an ihrer Körperertüchtigung zu betonen: »Durch den Sport wurdet ihr für den Krieg erzogen, darum ran an den Feind, auf ihn und nicht gezittert!«

Das Ergebnis der militärischen Auseinandersetzung des Deutschen Reichs mit der Europa-Auswahl ist bekannt, wurde aber hierzulande nicht akzeptiert. Man wähnte sich »im Felde unbesiegt«, als hätte man den Krieg an der West­front erst im Elfmeterschießen verloren.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mussten die DFB-Offiziellen den Schweizern erneut dankbar sein. Sie hatten sich nämlich als erster Nachkriegsgegner einer nur mit Stollenschuhen bewaffneten deutschen Truppe zur Verfügung gestellt, diesmal in Zürich. 4:1 gewannen die Schweizer, aber diese Niederlage wurde von deutschen Kickern und Fans locker verschmerzt, denn das Spiel bedeutete schließlich, dass man fußballerisch nicht länger geschnitten wurde. Und seit diesem 27. Juni 1920 internatonal wieder mitkicken durfte.

Eine erste Krise durchlitten die traditionell guten Beziehungen deutscher und schweizerischer Balltreter in der Begegnung vom 4. Juni 1938. Wieder wurde – dieses Mal nicht in einem Freundschaftsspiel, sondern im Achtelfinale der Fußball-WM in Frankreich – eine deutsche Mann­schaft zuvorderst nach Proporz aufgestellt. Schuld war der vorangegangene Anschluss der so genannten Ostmark, Hitlers alter Heimat, an das Deutsche Reich. Der DFB sah sich genötigt, fünf Österreicher ins Team zu integrieren. Doch die filigranen Techniker aus der feinen Wiener Fußballschule wollten leider gar nicht mit den Rumpelfüßlern aus der teutonischen Holzklasse harmonieren.

Heraus kam ein recht klägliches 1:1 nach Verlängerung, das der Hamburger Anzeiger, tief enttäuscht von der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Eidgenossen, wie folgt kommen­tierte: »Es war ein Schlachten, kein ritterlicher Sportkampf mehr.« Wer die Schuld an der Nicht­beachtung des Fairplay-Gedankens trug, stand für die gleichgeschaltete Gazette rasch fest: »Es ist nicht zweifelhaft, dass die Schweizer diesen Ton in das Spiel hineintrugen und Meister des versteckten Foulspiels waren … « Nüchterner sah es die Neue Zürcher Zeitung, nämlich als »außerordentlich harte Belastungsprobe, die das Wort vom völkerverbindenden Sport als hohle Phrase erscheinen« ließ.

Noch härter ging es beim Wiederholungsspiel im Pariser Prinzenparkstadion fünf Tage später zur Sache. Nach 20 Minuten schien alles entschieden: Der Favorit führte mit 2:0. Doch der Außenseiter kämpfte sich zurück in die Partie und erzielte noch vor der Halbzeit den Anschluss­treffer. Am Ende hieß es 4:2 für die Schweiz. »Wir haben verloren«, schrieb der Völkische Be­obachter ungewohnt sachlich, »und wir müssen feststellen, dass wir verdient verloren haben.« Als nicht ganz so guter Verlierer erwies sich Nationaltrainer Sepp Herberger: »Wir haben in einem tobenden Hexenkessel verloren, in dem sich alles gegen uns verschworen hatte. Glau­ben Sie mir, es war eine furchtbare Schlacht, es war kein Spiel mehr.«

In den nächsten Jahren fanden noch furchtbarere Schlachten statt. An deren Ende wollte endgültig niemand mehr mit Deutschland spielen, nicht einmal Fußball. Das Nachkriegs-Embargo gegen den DFB durchbrachen – na, wer wohl? – die braven Schweizer. Am 22. November 1950 traten sie im total überfüllten Stuttgar­ter Neckarstadion vor, wie die Wochenschau stolz vermeldete, 100 000 Zuschauern an und holten sich ihre 0:1-Niederlage ab.

Beide Nationalteams begegneten sich weiter in Freundschaft, unter anderem fast auf den Tag genau sechs Jahre nach dem für das zu reparierende Image der Deutschen so wichtigen Stuttgarter Länderspiel. Zwischendurch wurde – wo sonst als in der Schweiz? – sensationell die erste Weltmeisterschaft gewonnen, an der man nach dem Krieg wieder teilnehmen durfte. Auch das Aufeinandertreffen am 21. November 1956 in Frankfurt wurde ein historisches: Es war der bis heute letzte Sieg einer Schweizer Equipe über eine deutsche Elf; 3:1 gewannen die Eid­genossen am Sitz der DFB-Zentrale.

Später konnten die Deutschen auch die Bilanz bei großen Turnieren zu ihren Gunsten gestalten. Im Verlauf von Europameisterschaften wurden beide Teams allerdings nie einander zu­gelost. Anders bei Weltmeisterschaften: 1962 in Chile siegte Deutschland mit 2:1; vier Jahre später in England triumphierte die Elf um die Doppeltorschützen Franz Beckenbauer und Hel­mut Haller sogar mit 5:0.

Inzwischen sind 100 Jahre seit dem ersten Kräftemessen einer deutschen und einer eid­genössischen Auswahl vergangen. Ein geeig­neter Anlass, finden der DFB und sein Schweizer Pendant SFV, um sich am 26. März in Basel erneut in aller Freundschaft gegenüberzustehen. »Die Schweiz ist ein ideales Filmdrehland«, meinte der britische Regisseur Alfred Hitchcock einmal in gespielter Unschuld: »Seen braucht es, um Leute darin zu ertränken, und Alpen, da­mit man sie in die Schluchten stürzen kann.« Und Kicker, möchte man hinzufügen, die an­deren Mannschaften das Gefühl geben, eine wirk­lich große Fußballnation zu sein.