Die aufmerksame Hirtin

Wenn Kinder reizbar und hyperaktiv sind, diagnostizieren Psychologen ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und verabreichen Ritalin. Noch nicht definiert wurde eine Variante des Symdroms, die bei alternden Politikern auftritt. Wer, wie Antje Vollmer, einst Sitzungen des Bundestags leiten durfte und das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, leidet, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit so sehr nachlässt, dass die einzige Auszeichnung nach 2005 die Ehrenmedaille der Freunde des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs war. Das führt zu Reizbarkeit und Hyperaktivität, und es gibt nur ein Heilmittel: Aufmerksamkeit.
Die erwünschte Aufmerksamkeit erregte Vollmer mit einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung: »Droht der nächste Kalte Krieg?« Unter dem Niveau einer globalen Bedrohung gelingt die Therapie nicht, wichtig ist auch, sich als Besitzer einer »unbequemen« Minderheitsmeinung zu präsentieren. So wird aus der Debatte um Tibet der »mentale Krieg« des Westens gegen China. Von einer Grünen und ehemaligen Pastorin erwartet man, dass sie die chinesische Regierung kritisiert. Stattdessen wirbt sie um Verständnis für die chinesischen Machthaber, was ansonsten nur marginalisierte Randgruppen wie die deutschen Unternehmerverbände tun. Nicht etwa der feste Wille, das Machtmonopol der KP zu erhalten, hindert die chinesische Regierung am Dialog mit dem Dalai Lama. Nein, weil die Chinesen »vor der ganzen Welt gedemütigt werden, ihr Gesicht und ihre eigene Würde verlieren«, sind sie so bockig. Darunter leiden die Tibeter, für deren Nöte Vollmer pastorales Verständnis aufbringt. Denn nachdem die Mönche ins Exil gingen, »war Tibet religiös ein Volk ohne Hirten«. Zum Taschentuch möchte man greifen, wenn sie mutmaßt, der Dalai Lama werde womöglich »als einfacher Möch über den Himalaya gehen, um wenigstens die letzten Tage bei seinem Volk zu verbringen«. Aber vielleicht schreibt er lieber einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung, wenn nach den Olympischen Spielen die Aufmerksamkeit nachlässt.