Gemeinschaftsschulen auch in Berlin

Eine für alle

Nach Schleswig-Holstein und Sachsen will nun auch Berlin so genannte Gemeinschaftsschulen erproben. Kinder werden mindestens bis zur zehnten Klasse gemeinsam unterrichtet. Künftig können zudem alle Schulen in Berlin aufs Sitzenbleiben, auf das Probehalbjahr und – bis zur achten Klasse – auf Noten verzichten.

An Berliner Schulen sollen Kinder künftig nicht mehr sitzen bleiben! Und Noten kriegen sie auch nicht mehr! Ist das die Lehre aus dem »Pisa-Schock«? Mit dieser »Kuschelpädagogik« kriegt man die Abiturientenquoten doch nie nach oben! Nach Ganztagsschule, Zentralabitur und Frühkindförderung droht in der deutschen Schulpolitik neue Unbill: die Gemeinschaftsschule. Sachsen testet sie schon, Schleswig-Holstein auch, im Schuljahr 2008/2009 beginnt in Berlin die Probephase. Kinder sollen nicht mehr in Hauptschü­ler und Gymnasiasten, in Bildungsverlierer und »Leistungsträger« von morgen, aufgeteilt werden.
Elf Schulen werden im Sommer in Berlin zu Ge­meinschaftsschulen, zunächst bis 2011. Der Andrang war trotz des Fördergeldes von 22 Millionen Euro nicht groß – zwar bekundeten etwa 60 Schulen Interesse, letztlich gingen aber nur 15 Bewerbungen beim Senat ein. Das längere gemeinsame Lernen solle zu mehr »Chancengleichheit und -gerechtigkeit unabhängig von den Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen führen«, gibt die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung an.

Auch wenn nicht mehr ausgesiebt wird, ausgewählt wird trotzdem. Melden sich mehr Kinder an, als Plätze da sind, erhalten die, die näher an der Schule wohnen, den Vorzug. Nach der Grundschule, die in Berlin sechs Jahre dauert, bleibt den Lehrern im Fall zu vieler Anmeldungen auch immer noch die »Bildungsgangempfehlung«, um »eine gemischte Zusammensetzung der Schülerschaft« zu erwirken. Ganz weg fällt die Einteilung in vermeintlich »starke« und »schwache« Schüler, es gibt also keine unterschiedlichen »Niveaustufen« mehr. Hier liegt auch der Unterschied zur herkömmlichen Gesamtschule, die Schüler je nach Leistung in unterschiedlichen Gruppen unterrichtet. Dort bekommen die Jugendlichen am Ende der zehnten Klasse entweder den Hauptschul-, erweiterten Hauptschul- oder den mittleren Schulabschluss. Wer gut genug ist, kann in die gymnasiale Oberstufe aufsteigen.
In Berlin können nun sogar alle Schulen Elemente der neuen Gemeinschaftsschulen auf Probe übernehmen: Sie können künftig das Sitzenbleiben abschaffen, Schüler wiederholen dann nur noch freiwillig. Bis zur achten Klasse können die Schulen auf die Vergabe von Noten verzichten. Gymnasien und Realschulen, die sich für den Test entscheiden, schieben zudem »ungeeignete« Schüler nicht mehr einfach nach dem Probehalbjahr in die Hauptschule ab. Bisher hat allerdings noch keine einzige Schule einen entsprechenden Antrag bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung eingereicht, sagt deren Sprecher, Bernhard Kempf. Einige Gesamtschulen seien zwar interessiert, Gymnasien hielten sich aber zurück. So hat sich auch kein einziges Gymnasium darum beworben, eine Gemeinschaftsschule zu werden. »Gymnasien haben naturgemäß zunächst keinen Druck, eine Veränderung in Hinblick auf die Aufnahme auch leistungsschwächerer Schüler anzustreben, sie konzentrieren sich auf ihre Aufgabe, Schülern den Bildungsweg zum Abitur zu eröffnen«, führt Kempf aus.

Kritiker werden nicht müde, vor den Nachteilen der Gemeinschaftsschule zu warnen. So sagt der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Heinz-Peter Meidinger, »Wettbewerbsnachteile« für Berliner Schüler voraus. »Versagensquoten muss man mit qualitätssteigernden Maßnahmen senken und nicht mit administrativen Vorgaben«, empfiehlt er. Er bemängelt die »zunehmende Abkehr vom Leistungsprinzip«. Ralf Treptow, Vorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektoren, bezeichnet das Sitzenbleiben »als kein Mittel der Schullaufbahn, sonder eins, um Leistungsverweigerern Grenzen zu setzen«. Auch auf die Probezeit will er nicht verzichten, denn »sie gewährleistet, dass die Schüler entsprechend ihren Leistungsvoraussetzungen den richtigen Weg finden«.
Ein striktes Leistungspensum soll an Gemeinschaftsschulen vermieden werden. Die »individuelle Förderung« gilt als wichtig. Lothar Sack, Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule und Sprecher des Runden Tisches Gemeinschaftsschule Berlin, hält Konzepte wie das Lernbüro für geeignet, in dem die Schüler selbständig entscheiden, was sie wann und wie schnell lernen. Die Lehrer sind nicht zur Belehrung da, sondern beantworten Fragen und korrigieren Tests, die die Schüler dann ablegen, wenn sie denken, sie seien dazu in der Lage. Von solchen Zuständen seien gerade die Gymnasien weit entfernt, findet Sack. »Die drohende Zwangsabschulung entweder nach dem Probehalbjahr oder wenn man zwei Mal nicht versetzt wird, erzeugt Stress. Und ist Angstfaktor für andere. Das hat mit individueller Förderung nichts zu tun«, sagt er.
Dennoch gelte vor allem das Gymnasium immer noch als die gewünschte Bildungsinstitu­tion für »gute Schüler aus gutem Hause«. Dementsprechend gebe es »viel Elternwillen und Motivation«, diese Schulform zu erhalten. »Man braucht sich doch nur mal anzugucken, wer den Erhalt der Hauptschule fordert. Die Hauptschullehrer sind das nicht«, sagt Sack. Es muss eine schreckliche Vorstellung für viele Eltern sein: Der eigene, »leistungsorientierte« Nachwuchs muss mit Kindern aus so genannten bildungsfernen Schichten die Schulbank drücken.

Meinungen von Schülern sind in der Debatte bisher kaum zu hören. Die Entwicklung der Gemeinschaftsschule beobachtet die Landesschülervertretung (LSV) in Berlin kritisch. »Zwar ist es erst mal positiv, dass es überhaupt Bewegung gibt«, sagt Lee Hielscher von der LSV, »jeder Schritt gegen das dreigliedrige Schulsystem ist gut, da es ganz klar unzeitgemäß und sozial ausgrenzend ist.« In der derzeitigen Situation sei »gemeinsames Lernen allerdings nicht realisierbar«. Denn schon jetzt fehlten Lehrer, die Ausstattung sei schlecht. »Die Haupt- und Realschüler sehnen sich nach der Gemeinschaftsschule. Kein Wunder, sie machen die Erfahrung, dass sie mit ihrem Schulabschluss genauso gut gar keinen Abschluss hätten machen brauchen«, sagt Hielscher. Gemeinsames Lernen könne funktionieren, glaubt er. »Allerdings nur, wenn man Freiraum zum Kennenlernen und genug Zeit hat, sich etwas gemeinsam zu erarbeiten. Das geht nur, wenn man nicht den ganzen Tag getrieben wird, Leistung zu bringen«, urteilt er.
In Sachsen gibt es bereits Gemeinschaftsschulen. Schleswig-Holstein hat zum Schuljahr 2007/2008 sieben Gemeinschaftsschulen genehmigt. Das Konzept komme gut an, sagt Sven Runde, der Sprecher des Ministeriums für Bildung und Frauen. »Für das kommende Schuljahr liegen uns rund 50 neue Anträge auf Gemeinschaftsschulen vor, deutlich mehr als ursprünglich erwartet«, gibt er an.
Vielleicht entscheiden am Ende auch einfach die wirtschaftlichen Argumente. Schon jetzt jammern Unternehmen über den fehlenden qualifizierten Nachwuchs, im internationalen Vergleich machen hierzulande zu wenige Jugendliche Abitur. Und auch das Sitzenbleiben kostet: Schüler, die die Versetzung nicht schaffen, sind zumindest im Wiederholungsjahr ökonomisch gesehen eine zusätzliche Investition. Das missfällt nicht nur den Bildungs-, sondern auch den Finanzpolitikern.