Merkels Dekolleté

Im Wedding ist es wurscht

Niemand redet mehr über Angela Merkels Politik. Seit sie zur Eröffnung der neuen Oper in Oslo in einem freizügigen Abendkleid erschien, sprechen alle nur noch von ihrem Dekolleté. Um der lästigen, voyeuristischen Debatte zu entfliehen, sollte sie einen Abstecher in den Berliner Stadtteil Wedding machen.

Ein offener Brief

Liebe Angela Merkel!

Das Schöne, wenn man im Berliner Wedding lebt, einem jener verrufenen Viertel der Hauptstadt mit vielen realen und noch mehr von außerhalb Wohnenden vermuteten Problemen, ist, dass man nur vor die Tür zu gehen und die Menschen zu betrachten braucht, und schon bekommt man gute Laune. Hier zwängen sich Frauen in hautenge Tops, die dem Begriff »bauchfrei« eine ganz neue, geradezu physische Dimension geben, denn dem speckigen Bäuchlein bleibt oft gar keine andere Möglichkeit, als den Weg in die Freiheit zu suchen, alternativlos quillt es wie Zwiebelmettwurst an der offenen Seite des Kunstdarms heraus, wenn man oben mal ordentlich draufdrückt. Männer daneben wirken so, als seien sie aus­gebrochene Exponate eines ZZ-Top-Museums. Ju­gend­gangs tragen bizarre Kopfrasuren zur Schau und stopfen sich in seltsam aufgeplusterte Jacken, die sie aussehen lassen, wie Michelin-Männchen, die sich zum Plausch treffen. Ältere deutsche Herren sind so zurechtgemacht, als wären sie GIs, die gerade aus dem Irak zurückkehren, einer läuft sogar seit Jahren wie Friedrich der Große herum, im vollen Wichs.
Niemand hat diese Menschen dazu gezwungen, im Gegenteil. Viele der Frauen mussten erheb­liche körperliche Anstrengungen auf sich nehmen, um den glitzernden Synthetikstoff über die Beine zu bekommen, die Araber-Jungs bringen viele Stun­den in der Woche damit zu, ihre Klamot­ten zu wechseln. Es ist ihr freier Wille, so herumzulaufen, sie mögen das. Warum? Das ist für die meisten Menschen nicht nachzuvollziehen. Und zwischen all diesen Typen bewegen sich noch die, denen alles egal ist. Die mit dem vor die Tür gehen, was sie gerade anhaben, im Unterhemd, in der Jogginghose, in Textilien, für die ich gar kein passendes Vokabular kenne. Es ist ihnen wurscht, was andere davon halten, und den anderen ist es wurscht, wie die so herumlaufen. Mögen die Hin­tergründe auch fragwürdig sein – ist es im Ergebnis nicht eine wunderbare Vision? Gibt uns das nicht eine kleine Vorstellung davon, wie eine bessere Welt aussehen könnte? Nicht schöner, aber eben besser?
Angela Merkel, vermutlich wissen Sie gar nichts von diesem Viertel, das nur ein paar Minuten von Ihrem Wohnsitz entfernt ist. Kommen Sie doch mal vorbei! Sie können getrost Ihre Bodyguards zu Hause lassen, denn hier erkennt Sie ohnehin niemand. Freien Wohnraum gibt es genug, Sie könnten ganz entspannt hier leben und herumlaufen, ganz wie Sie mögen, mit Ihrer berühmten Topffrisur, die so vielen drittklassigen Kabaret­tis­ten lange Jahre Inhalts- und Brotlieferantin Num­mer eins war. Sie müssten nicht mehr diesen aufdringlichen, schmierigen, promigeilen Haarschnitzer an sich heranlassen, denn hier gibt es an jeder Ecke ein »Cut & Go« für nur zehn Euro, und wenn Sie wollten, könnten Sie Ausschnitt bis zum Bauchnabel zeigen oder gleich am Plötzensee nackt baden gehen, so wie damals in der Ucker­mark. Niemand würde sich daran stören.
Liebe Angela Merkel, ich weiß, das ist nur ein Hirngespinst. Aber kleiden Sie sich doch weiterhin bitte so, wie Sie mögen, und ignorieren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Geraune und Gejohle der Meute. Und wenn Sie dann wirklich mal eine Verschnaufpause brauchen von diesen lächerlichen Debatten, den hochgradig peinlichen Kommentaren, den voyeuristischen Wichtig­tuern, kurzum: diesen ganzen Vollspacken der Regenbogenpresse von Spiegel bis Bild, dann schmeißen Sie sich einfach Ihr liebstes Abendkleid über oder Ihren bequemsten Bademantel, ziehen sich hochhackige Lederstiefel an oder Ihre Adiletten, und fahren Sie zu uns! Es sind nur sechs Stationen mit der U 6, das ist diese Linie in der Farbe Ihres Oslo-Kleides, und dann trinken Sie hier einen Kaffee oder essen einen Döner, ganz wie Sie wollen – es interessiert hier keine Sau.

Herzliche Grüße, Ihr
Heiko Werning