Der Niedriglohnsektor in Deutschland wächst

Arbeitsam und arm dabei

Immer mehr Menschen in Deutschland arbeiten zu mickrigen Stundenlöhnen. Weil die Binnennachfrage schwächer ist als erwartet, bereitet das sogar den Wirt­schaftsinstituten Sorge.

»Entweder Deutschland wächst oder die Unterschicht« – das war im Jahr 2006 der Titel einer Anzeigenkampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, einem PR-Verein der deutschen Arbeitgeberverbände. Doch eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) zeigt, dass Deutschland, also die deutsche Wirtschaft, und die Unterschicht wachsen. Von 1995 bis 2006 sei der Niedriglohnsektor von 15 Prozent auf 22 Prozent angewachsen. Auch der »Auf­schwung« hat demnach den Trend nicht gestoppt.
Als Niedriglöhner gilt, wer weniger als zwei Drit­tel des mittleren Stundenlohns verdient. Im Jahr 2006 lag die Grenze bei 6,81 Euro brutto im Osten und 9,61 Euro im Westen. Durchschnittlich bekommt eine Billiglohnkraft im Westen 6,89 Euro, im Osten 4,86 Euro. Brutto.

Orhan ist einer der vielen Niedriglöhner, die im Gastgewerbe tätig sind. Der 24jährige arbeitet oft elf Stunden am Tag in der Dönerbude. »Egal wie lange ich hier stehe, ich bekomme 800 Euro brutto«, sagt er, während er die Pommes in die Fritteuse schüttet. »Gerade bin ich kräftig im Minus.« Um Kinder zu haben, sei sein Gehalt zu niedrig. »Wenn du Familie hast, musst du was bieten können.«
Wenn die eigene Arbeitskraft billiger wird, sonst aber alles teurer, wird es schwierig. Im vorigen Jahr sind die Brötchen um zehn Prozent, Käse, H-Milch und Butter um fast 30 Prozent teurer geworden. Auch die Preise für Dienstleistungen und Energie sind stark gestiegen. Wer Familie hat, arbeitet besser schwarz. Dann bleibt der geringe Lohn wenigstens von Abzügen verschont. So macht es Andreas. Der 29jährige wird für seinen Job als Kellner bar auf die Hand bezahlt und erhält Arbeitslosengeld II dazu. Damit kommt er mit seinem Sohn und seiner Freundin, die studiert und als studentische Hilfskraft an der Universität arbeitet, halbwegs zurecht. »Wenn ich das legal machen würde, wären wir arm.«
Arm ist mittlerweile jede vierte Familie in Deutschland. Im Entwurf des dritten »Armuts- und Reichtumsberichts«, den Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) bald vorlegen wird, leben 26 Prozent der Familien unterhalb der Armutsgrenze. Zugleich sei die Zahl der Gutverdiener, die über mehr als 2 900 Euro netto verfügen, deutlich gestiegen. Über den Wortlaut des »Armuts- und Reichtumsberichts« wird nach Informationen des Spiegel noch zwischen Arbeitsministerium und Kanzleramt verhandelt. Die Bundesregierung steht vor der Schwierigkeit zu erklären, warum der gefeierte »Aufschwung« nicht wie versprochen auch »bei den Menschen ankommt«.
Zum Beispiel bei den Wachschützern, deren tariflich vereinbarter Lohn im Osten bei 4,38 Euro liegt. Oder bei den Friseurinnen, die im Osten ebenfalls tariflich vereinbarte 3,82 Euro bekommen. Die vor allem von Frauen erbrachten Dienstleistungen sind meist Niedriglohnjobs: 68 Prozent der Geringverdiener sind Frauen. Über­wiegend von Frauen erledigt werden auch die Minijobs, die zu 92 Prozent mit Niedriglöhnen be­zahlt werden. Doch fast die Hälfte der Niedrig­lohnempfänger arbeitet nach der IAQ-Studie in Vollzeit.

Auch David arbeitet Vollzeit und lebt ungefähr auf dem Niveau von Hartz IV. Bei den 22 Prozent Niedriglöhnern aus der IAQ-Studie ist er aber nicht eingerechnet. Denn Beschäftigte, deren Stun­denlöhne sich nicht sinnvoll angeben lassen, fallen aus der Studie heraus. »Meinen Stundenlohn rechne ich mir lieber gar nicht aus«, sagt der 29jährige Anglist, der versucht, sich freiberuf­lich mit Webdesign und Übersetzungen durchzuschlagen. »Bisher verdiene ich genug, um Miete und Essen zu zahlen.« Weil er auch eine Krankenkasse braucht, die für arme Freiberufler aber unerschwinglich ist, hat er das Arbeitslosengeld II beantragt.
David fällt zwar aus der Statistik der Studie, passt als Akademiker aber trotzdem gut ins Bild. Zu niedrigen Löhnen arbeiten längst nicht mehr nur die »bildungsfernen Schichten«, wegen denen die Notwendigkeit eines Niedriglohnsektors propagiert wurde. Drei Viertel der Billigarbeitskräfte haben eine Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss. Mittlerweile dürften diejenigen, die sich früher immer über die »Servicewüste Deutschland« beklagten, recht zufrieden sein, denn heutzutage stehen ihnen auch gut ausgebildete Dienstboten zur Verfügung.
Dass 70 Prozent der Bevölkerung mittlerweile einen Mindestlohn befürworten, der diese Errungenschaft bedrohen würde, findet der ehema­lige Bundespräsident Roman Herzog unglaublich. »Es muss auch ein Recht auf Dummheit geben«, kommentierte er in der Bild-Zeitung. Die Welt empörte sich über die »tendenziöse Studie« des IAQ: Dass sich »endlich etwas im Niedrig­lohn­sektor tut«, sei »ein Erfolg der Arbeitsmarktreformen«. Das stimmt. Die Niedriglöhner sollten also der Bundesregierung für die »attraktiven Bedingungen für Minijobs« danken, statt dreist einen Mindestlohn zu fordern.
Weil sich der Mindestlohn einer so großen Anhängerschaft erfreut, forcieren die Verlautbarungsorgane der Arbeitgeber ihre Bemühungen, die expandierenden Niedriglöhne möglichst klein zu reden. »Bei den Geringverdienern handelt es sich vor allem um geringfügig Beschäftigte, die sich etwas hinzuverdienen«, beschwichtigte etwa Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirt­schaftsforschung (DIW).
Aber auch den Wissenschaftlern vom DIW dürften die Niedriglöhne Sorgen bereiten. Ende 2007 gingen sie noch davon aus, dass globale Konjunk­turhemmnisse wie der schwache Dollar, der Ölpreis und die Hypothekenkrise durch eine steigen­de Nachfrage im Inland kompensiert werden könnten. Wegen der sinkenden Arbeitslosigkeit glaubte man, die Wirtschaft werde in diesem Jahr um 2,1 Prozent wachsen. Die Arbeitslosigkeit sank jedoch vor allem, weil geringfügig Beschäftigte, die eigentlich von Hartz IV leben, für erwerbstätig erklärt wurden. Und die wirklich neuen Jobs entstanden größtenteils im Niedrig­lohnbereich. Wer arbeitet, aber nicht mehr als das Existenzminimum bekommt, kann auch nicht mehr konsumieren als ein Empfänger des Arbeitslosengeldes II. Wie die Financial Times Deutschland berichtete, geht die Wachstumsprognose des DIW daher nicht auf.

Weil zu niedrige Löhne die Konjunktur beeinträch­tigen, lässt sogar die Regierung mitteilen, der »Aufschwung« müsse »bei den Arbeitnehmern an­kommen«. Aber der »Aufschwung« wird von den Niedriglöhnen wohl nicht nur begrenzt, sondern zugleich ermöglicht. Michael Bättig von der Oldenburger Arbeitsloseninitiative ALSO, die im No­vember an der Universität Oldenburg ein Symposium zum Thema »Armut und Ausgrenzung im Aufschwung« veranstalten wird, hält die Forderung, der »Aufschwung« müsse endlich »unten ankommen«, für irreführend. Seiner Meinung nach gilt die »alte Marxsche Analyse immer noch«, dass das Kapital die Profitraten bei gesteigerter globaler Konkurrenz durch den Rück­griff auf Billiglöhne rette.
Das Versprechen, Deregulierung und Verzicht brächten Wirtschaftswachstum, Wirtschafts­wachs­tum schaffe Arbeit, und Arbeit sei ein Mittel gegen Armut, dürfte allmählich seine Glaub­würdig­keit einbüßen. Für die Wirtschaftsinsti­tute, die für den ideologischen Überbau der forcierten Aus­beutung sorgen, ist das aber nicht weiter schlimm. Dann verlagert man eben den Schwerpunkt von der Wachstums- auf die Leis­tungsideo­logie. Die Initiative Neue Soziale Markt­wirtschaft zeigt, wie das geht. Sie schlägt vor, Armut so zu definieren, dass »derjenige arm ist, dessen Leistungsvermögen zu gering ist, um sich und seiner Familie ein ausreichendes Einkommen zu erarbeiten«.