Arbeitskampf der Sans Papiers in Paris

Bedient wird nicht!

Seit Mitte April streiken im Großraum ­Paris papierlose Arbeiter, unterstützt vom Gewerkschaftsbund CGT, für ihre sofortige »Legalisierung«. Alle Beteiligten leben und arbeiten seit vielen Jahren in Frankreich, sie bezahlen Sozialbeiträge und Steuern, nur die Aufenthaltsbewilligung fehlt ihnen. Die Regierung hat den Streikenden eine Einzelfallprüfung zugesagt, was viele als einen Versuch interpretieren, die Proteste zu schwächen. Der Streik soll erst einmal weitergehen.

Der Arbeitskampf war von der CGT seit längerem vorbereitet worden. Zunächst waren rund 200 migrantische Arbeitskräfte in ausgewählten Betrieben im Streik, ihre Zahl stieg jedoch innerhalb einer Woche auf 600.
Betroffen von dem Ausstand sind rund 30 Betriebe, vor allem Restaurants und Gaststätten, aber auch Reinigungsbetriebe und vereinzelt Bau­firmen. In Villejuif, südlich von Paris, besetzten rund 300 migrantische Arbeitskräfte zusätzlich tagelang den Sitz des Arbeitgeberverbands im Reinigungsgewerbe. Dieser beantragte bei Gericht eine einstweilige Verfügung zur Räumung der Blockierer, kam damit aber nicht durch. Bis zum 1. Mai wurde der Arbeitskampf lediglich in zwei Betrieben im Pariser Umland, einem Restaurant und einem Bauunternehmen, durch eine Mischung aus schnellen Zugeständnissen und erheblichem Druck beendet.

Im schickeren Viertel in der Nähe des Pariser Opernplatzes befindet sich eine besetzte Pizzeria. Es herrscht reger Betrieb, Menschen strömen in die umliegenden Kinos und Cafés oder flanieren auf dem Boulevard des Italiens. Drinnen geht der Betrieb weiter, Gäste sitzen an Tischen und werden bedient. An der Fassade hängen Streiktransparente. Links an einem Tisch sitzen die Ge­werkschafter der CGT, die Unterschriften für eine Unterstützungspetition sammeln. Rechts von ihnen, an einem anderen Tisch, sitzt die streiken­de Belegschaft: Alle kommen aus verschiedenen afrikanischen Ländern. »Der Besitzer hat eingewilligt, bei der Präfektur sein wirtschaftliches Gewicht geltend zu machen und für seine Beschäf­tigten Papiere zu beantragen. Da er der Forderung nachkommt, wollten wir seinen Betrieb nicht über die Auswirkungen des Streiks hinaus beeinträchtigen«, meint ein Gewerkschafter.
Dem Besitzer, einem Spanier, gehört eine ganze Kette von Pizzerien und Schnellrestaurants. Wer macht eigentlich die Pizzas und schenkt den Wein aus? »Der Pächter hat sich mit seinen höheren Angestellten selbst hinter den Ofen gestellt, um den Betrieb aufrechtzuerhalten«, erzählt einer der Afrikaner lachend. »Aber jetzt sehen sie erst einmal, dass sie den Höllenrhythmus nicht durch­halten, unter dem wir arbeiten. Am Abend, wenn sie gehen, stapelt sich das schmutzige Geschirr hinter ihnen: Sie kommen nicht dazu, es zu spülen.« Nach einigen Tagen holte der Besitzer dann zusätzliche Arbeitskräfte zur Verstärkung aus seinem Herkunftsland: zwei Spanier, einen Argen­tinier, einen Paraguayer. »Sie wirken ein wenig wie Langzeitstudenten. Sie sind persönlich ganz nett und haben uns erklärt, sie unterstützten unsere Forderungen. Unterdessen sind sie auch ganz froh, für ein paar Tage in Paris bleiben zu dürfen, und machen deshalb ihre Arbeit«, erzählt einer der Streikenden.
Für eine Arbeitswoche von 50 bis 55 Stunden bekommen die Sans Papiers einen gesetzlichen Mindestlohn, der rund 1 000 Euro netto beträgt, ohne Anerkennung von Überstunden. 14 Tage Urlaub gibt es im Jahr, das ist weniger als die Hälf­te dessen, was das Gesetz vorschreibt. »Wenn die Sache mit den Papieren erst über die Bühne gegangen ist, dann steht eine zweite Runde an: der Kampf um soziale Rechte. Wenn die Leute Pa­piere haben und legal arbeiten können, dann werden sie alsbald auch ihre Rechte geltend machen. Und dann zünden wir die zweite Stufe der Rakete«, meint der Vertreter des Ortsverbands der CGT, der selbst im Gaststättengewerbe gearbeitet hat. Der Druck des gewerkschaftlichen Pro­tests macht die »illegalen« Einwanderer sichtbar. Im Falle ausbleibender »Legalisierung« ihrer Arbeitskräfte sind die Arbeitgeber selbst der Gefahr von Strafverfolgung ausgesetzt, deshalb sehen sie sich nun gezwungen zu handeln.
Die von den regierenden Konservativen veränderte Ausländer-Gesetzgebung sieht einerseits vor, dass die Arbeitgeber von Beschäftigten, die sich »illegal« in Frankreich aufhalten, selbst bestraft werden können, wenn sie sich nicht versichert haben, dass der Aufenthalt der Arbeitskräfte »rechtmäßig« ist. Dazu müssen sie nicht mehr nur selbst die Papiere kontrollieren – was es ihnen früher in aller Regel erlaubte, ein Auge zuzudrücken, wenn ihnen falsche oder einer anderen Person aus demselben Herkunftsland gehörende Papiere vorgelegt wurden –, sondern die Präfektur zu ihrer Überprüfung einschalten. Andererseits aber gibt sie den Arbeitgebern das Recht, für ihre eigenen Arbeitskräfte »ausnahmsweise« eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen, die von den Behörden geprüft werden muss – ohne jegliche Rechtsgarantie für die betroffenen Sans Papiers. Da der Arbeitgeber nicht mehr – wie früher – einfach die Augen zudrücken kann, um »illegale« und deshalb gefügigere Arbeitskräfte einzustellen oder weiterzubeschäftigen, kommt er selbst in die Bredouille, wenn die »Illegalität« seiner Angestellten öffentlich wird. Die Kontrollwut der konservativen Politiker tritt an dieser Stelle in Widerspruch zum öko­nomischen Interesse der Unternehmer. Diese spre­chen sich unter dem Druck des Streiks deshalb für eine »Legalisierung« der betroffenen Arbeitskräfte aus.

Am Abend ruft ein Freund an: »Halte dich bereit, Überraschungsparty in Neuilly-sur-Seine. Und bring deine Turnschuhe mit!« Es ist klar, was das bedeutet: Eine neue Besetzung steht an, und es könnte unter Umständen sportlich zugehen. Eine halbe Stunde später sitzen wir im Auto und über­queren den Seinebogen nördlich von Paris, in Richtung Nobelvorort. Neuilly-sur-Seine ist die französische Gemeinde mit dem höchsten Pro-Kopf-Vermögen und dem höchsten Millionärs­anteil.
Wir sind angekommen bei der Adresse, die wir von Unterstützern der Sans-Papiers-Bewegung erhalten haben. Das Etablissement ist das Café de la Jatte, ein derzeit beliebtes Restaurant auf der Seineinsel von Neuilly. Es liegt in der Nummer 60 jener Straße, deren Nummer 41 Nicolas Sarko­zy bewohnte, bevor er vor einem Jahr Staatspräsident wurde und seine Privatwohnung aufgab, um in den Elysée-Palast einzuziehen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Sarkozy seit 1983 Bürgermeis­ter von Neuilly gewesen. Im imposanten Fenster des Restaurants hängen Fahnen der CGT und Trans­­parente mit der Aufschrift »Streik«. Ein Ehepaar setzt beim Vorbeigehen ein pikiertes Gesicht auf. Ein Blick auf die Karte belegt: Hier isst man vielleicht gut, auf jeden Fall aber teuer. Die Vorspeisen kosten zwischen 6,50 und 25 Euro, die Hauptgerichte zwischen 20 und 35 Euro. Sarkozy habe hier auch gegessen, meinen die Streikenden: »Hier war seine Kantine, er war oft hier.« Persönlich hätten sie ihn auch gesehen, meinen die zehn Küchenbeschäftigten, die alle aus Mali stammen. »So ein Politiker, der kommt schon mal in die Küche, um dem Koch zu gratulieren, wenn es ihm geschmeckt hat.« Einer von ihnen erzählt, der Besitzer habe zu Sarkozy gesagt: »Gell, aber meine Sans Papiers, die schiebst du mir nicht ab?« Worauf der damalige Innenminister geantwortet habe: »Nein, nein, mach dir keine Sorgen.« Auch Brice Hortefeux, der derzeitige Ein­wanderungsminister, habe hier gegessen.
Dass hier wie anderswo Sans Papiers in den Küchen arbeiten, auf Baustellen malochen oder den Boden putzen, ist bekannt. Vor allem diese drei Gewerbezweige würden ohne sie längst zusammenbrechen, da kaum Einheimische diese Arbeit zu den angebotenen Bedingungen verrichten mögen. Dass es wirklich um eine Frage der Arbeitsbedingungen geht, zeigt zum Beispiel ein Blick auf die Entwicklung des Straßenkehrerberufs. Vor 15 Jahren sah man fast ausschließlich Ma­lier und Senegalesen die Straßen der franzö­sischen Hauptstadt fegen. Inzwischen wurde der Beruf jedoch »aufgewertet«, statt mit Besen sind die Angestellten mit fahrbaren Maschinen unterwegs, ihnen wurde eine Qualifikation zuerkannt, ihre Löhne wurden angehoben. Heute sieht man mehrheitlich Weiße den Job verrichten, und in den Rathäusern stehen viele Kandidaten auf den Wartelisten für eine Einstellung.
Auch im Café de la Jatte fragen wir, wie es um Löhne und Arbeitszeiten bestellt ist. Eine Küchen­kraft erhält 1 150 Euro netto im Monat, das sind etwa zehn Prozent mehr als der gesetzliche Mindestlohn – aber für Arbeitszeiten, die keinerlei Zeit für Privatleben übrig lassen und die gesetzlich vorgesehenen 35 Stunden weit übersteigen. »Wir fangen um 8 Uhr oder um 8.30 Uhr an, da man alles für die Rush-Hour um Mittag vorbereiten muss. Wenn es dann um Punkt zwölf Uhr losgeht, dann bleibt keine Minute, um auch nur auf die Toilette zu gehen. Um 15.15 Uhr ist die erste Hälfte des Tages vorbei, dann sind ungefähr drei Stunden Pause.« Aber keiner der Küchenangestell­ten wohnt in Neuilly. Mamadou* etwa wohnt in Montreuil, das liegt am anderen Ende der Stadt, mindestens 45 Minuten Fahrzeit. »Wir fahren zwischendurch in unser Wohnheim. Dann haben wir dort ungefähr eine Stunde, um zu essen, bevor wir an die Arbeit zurück müssen. Wir essen fast ausschließlich im Wohnheim, wo kollektiv gekocht wird.« Das ist billiger als alle anderen Alternativen: »Wir haben 20 Euro an Budget in der Woche, um zu essen. Der Rest unseres Einkom­mens ist für die Miete und Nebenkosten, und wir schicken Geld nach Hause, wo Schulen und Krankenstationen oder Brunnen mit den Überweisungen der Auswanderer errichtet werden. 20 Euro pro Woche für Essen ist die Grenze. 30 Euro kann man sich nicht leisten«, meint Ouattara. Ein durchschnittliches Essen mit Getränken kostet im Café de la Jatte ungefähr 80 Euro.
Um 18 oder 18.30 Uhr geht so ein Arbeitstag in der Küche dann weiter – und endet gegen 23 Uhr, die Gäste verlassen dann das Lokal gegen Mitternacht. Wer sein Wohnheim am frühen Morgen gegen 7 Uhr verließ, ist um 24 Uhr zurück. Und das an fünf Tagen in der Woche. Die Küche liegt im Kellergeschoss und hat kein einziges Fenster. »Nun stell dir vor, wie es ist, wenn alle Öfen und Gasherde an sind. Egal ob im Sommer oder im Winter, es ist ein Treibhaus. Neulich meinte einer der Saalangestellten, die die Gäste bedienen, wir würden zu langsam arbeiten. Wir haben ihm angeboten, sich mal bei uns in der Küche aufzuhalten, und haben den Ofen vor ihm angestellt. Er hat es keine fünf Minuten ausgehalten.« Ob es nicht vorkomme, dass in der Hektik mal was anbrennt und es deswegen länger dauert? »Klar, es brennt schon mal was an«, meint einer der Ma­lier und zeigt seinen Unterarm, an dem zwei dicke Brandblasen zu sehen sind. »Das war gestern, als ich den Ofen berührte. Unfälle kommen schon mal vor unter dem Druck.«

Unter den Unterstützern des Streiks findet sich auch der Besitzer des Restaurants. Erst am späte­ren Abend als er sich zum Schlafen in seine Gemächer zurückzieht fällt mir auf, dass er ebenfalls dabei saß. Ein vornehmer älterer Herr mit grauweißen Haaren. »Er war in Afrika unterwegs und kennt das System bei uns, er weiß, dass wir Respekt vor dem Alter haben. Er nennt uns häufig ›meine Kinder‹«, meint ein junger Koch mit Kinn­bärtchen. Nein, nein, Anstalten, die Polizei zu rufen, habe er keine gemacht, als der Streik begann: »Er will doch auch, dass es seinen Kindern gut geht.« Anders als bei der Pizzeria am Opernplatz, die von einer relativ anonymen Kapitalstruktur und einem fernen Besitzer verwaltet wird, haben wir es mit einem »altmodischen«, paternalistischen Betrieb zu tun, dessen Geschicke vom Besitzer persönlich gelenkt werden.
Überrascht habe er sich gegeben, als er erfuhr, dass seine Angestellten keine Aufenthaltstitel haben. Früher habe er sich die Papiere ab und an mal zeigen lassen – aber er habe beide Augen zugedrückt, als ihm klar sein musste, dass die Angestellten nicht ihre eigenen Papiere vorzeigten, sondern die anderer Personen. »Offen gesagt, nein, wir konnten nicht glauben, dass ihm das nicht auffällt. Am Anfang kann man vielleicht noch denken: Für ihn sehen alle Schwarzen gleich aus. Aber nachdem er jahrelang mit uns gearbeitet hat, musste er doch sehen, dass diese Fotos nicht uns zeigten«, kommentieren einige Köche.
Brutal habe er nicht reagiert auf den Streik. Nur um eine Sache habe er gebeten: »Holt nur keine Gewerkschaft, die bringen uns nur Scheiße ins Haus. Untereinander können wir die Dinge doch viel besser regeln.« Mit diesem Anliegen ist er nun gescheitert, denn wegen des Streiks und seiner gewerkschaftlichen Unterstützung hat er nun die CGT im Haus.

Nicht überall ging die Einigung zwischen Patron und streikenden Sans Papiers so lautlos vor sich. In Pavillons-sous-Bois, nördlich von Paris, etwa holte der Besitzer eines von bisher für ihn arbeitenden Sans Papiers besetzten Kleinbetriebs eine Schlägertruppe herbei, um die Streikenden von den Arbeitsplätzen zu vertreiben. Der bestreikte Betrieb ist eine Baufirma, die in einem der wohl härtesten Sektoren tätig ist: Abbruch­arbeiten und Asbestentseuchung. Tätigkeiten, die heutzutage – etwa bei Schiffen – oft in Länder der »Dritten Welt« wie Bangladesh ausgelagert werden. Die Arbeitsbedingungen in Pavillons-sous-Bois scheinen den dortigen zu ähneln, bei einem Stundenlohn von 3,80 Euro. Das ist illegal, weshalb dem Eigentümer in diesem Falle nun auch Strafverfolgung ins Haus steht. Im Département Essonne, im südlichen Pariser Umland, soll der Chef einer bestreikten Baufirma die Nerven verloren haben und mit einem Gewehr unter dem Arm im bestreikten Betrieb aufgetaucht sein.
Bis Ende voriger Woche haben die CGT und die Organisation Droits devant! statt der angekündigten 600 insgesamt 930 individuelle Dossiers zur »Legalisierung« eingereicht. Abzuwarten bleibt nun, ob tatsächlich allen die seit langem ersehnte Legalisierung zuteil wird – oder ob die Behörden nach dem Streik die Kollektive der Beschäftigten durch eine »Einzelfallbearbeitung« zu spalten versuchen. Es wäre nicht das erste Mal, denn auf diesem Wege wurden die starken Sans-Papiers-Bewegungen der neunziger Jahre, die damals noch Kirchen besetzten, von der da­ma­ligen sozialdemokratischen Regierung geschwächt. Am Ende waren sie als politischer Faktor vorübergehend ausgeschaltet.
Wahrscheinlich wird die Regierung versuchen, durch eine 80-zu-20-Prozent-Regelung im Hinblick auf die Streikenden und der CGT »Ballast ab­zuwerfen« und zugleich eine Minderheit von vielleicht einem Fünftel der Betroffenen in der »Illegalität« zu halten. Zur Abschreckung von anderen potenziellen Streikwilligen: Ihnen muss deutlich gemacht werden, dass so ein Ausstand nicht ohne Risiko ist. Denn wer sich auf diesem Wege als Papierloser bekannt macht, aber die ersehnte Aufenthaltserlaubnis nicht erhält, hat erst einmal alles verloren. Ein Arbeitgeber kann und darf ihn, zumal er selbst mit einer Bestrafung rechnen müsste, nicht weiterbeschäftigen. Die entscheidende Frage wird sein, ob etwa die CGT sich auf einen Kompromiss einlässt oder bei der Forderung nach einer kollektiven Legalisierung für alle Streikenden hart bleibt.

* Name geändert