Das Inzestverbrechen von Amstetten

Brauch und Missbrauch

Das Inzestverbrechen von Amstetten ist in seinen spektakulären Dimensionen ein Einzelfall. Autoritäre Familienstrukturen, die Missbrauchsfälle begünstigen, sind aber durchaus akzeptierte Normalität in der österreichischen Gesellschaft.

Die Belagerung Amstettens hat nicht lange gedauert. Bereits eine Woche nach Bekanntwerden der Inzestverbrechen des 73jährigen Josef Fritzl haben die meisten Sendewagen der internationa­len Fernsehanstalten die Kleinstadt wieder verlassen. In der 23 000-Einwohner-Gemeinde sind wieder Hotelzimmer zu haben. Der Alltag soll wieder einkehren, schallt es auch von den Stamm­tischen.
Als den Ort des »Horror-Hauses« mit dem »Mons­­ter« und den »Kellerkindern« wird man das niederösterreichische Amstetten aber noch länger im Gedächtnis behalten. Wie Strasshof. Nicht einmal zwei Jahre ist es her, dass Natascha Kampusch aus ihrem Verlies fliehen konnte. Das Mädchen entkam ihrem Geiselnehmer Wolfgang Prikopil nach acht Jahren, die sie im Keller eines Einfamilienhauses in Strasshof, ebenfalls im Bundesland Niederösterreich, verbracht hatte. Zwei ähnliche Fälle in so kurzer Zeit: Liegt im Wegsperren Minderjähriger etwas typisch Österreichisches, wie manche Beobachter nun nahe­legen? Niederösterreich – das Land der Patriarchen und unhinterfragten Autoritäten?

Die Regierung sowie die Mehrheit der Bevölkerung wehrt sich gegen solche Fragestellungen. Es gebe »keinen Fall Amstetten, keinen Fall Österreich«, sagte Bundeskanzler Alfred Gusenbauer der Bild-Zeitung. In seiner Ansprache beim traditionellen Aufmarsch der SPÖ am 1. Mai in Wien sagte er: »Wir werden nicht zulassen, dass irgend­jemand glaubt, unserer Jugend eine neue Erbsünde andichten zu können.« Mit einer Imagekampagne will man der »internationalen Rufschädigung« entgegentreten.
Ob Nachbarn und Behörden den Verbrechen eines Tyrannen tatsächlich zugeschaut haben, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Josef Fritzl, seine Familie sowie Mieter, die in dem Mehrparteienhaus gelebt haben, werden weiterhin vernommen. Der Täter ist weitgehend geständig. Durch seine Angaben sowie die Aussagen seiner Opfer, insbesondere der heute 42-jährigen Tochter Elisabeth, sind die Grundzüge der Tat bekannt.
Danach lockte er das Mädchen, das er seit ihrem elften Lebensjahr missbraucht hatte und das als Kind aus diesem Grund schon einmal weg­ge­laufen war, am 28. August 1984 in den Keller des Hauses. Dort betäubte er sie und legte ihr Hand­schellen an. Elisabeth wurde im Keller festgehalten, zunächst in einem einzigen Raum, spä­ter baute der Täter den Keller zu einer Art »Wohnung« aus: drei Zimmer, eine Kochnische, Toi­lette, Bad, keine Fenster, kein Tageslicht, Deckenhöhe 1,70 Meter, eine elektronisch gesicherte Tür. Für den Fall eines Fluchtversuchs drohte er an, Gas in den Keller zu leiten. Aus den regelmäßigen Vergewaltigungen gingen sieben Kinder hervor, eines verstarb kurz nach der Geburt, da medizinische Versorgung fehlte, Fritzl verbrannte es im Heizkessel. 24 Jahre lang galt Elisabeth als verschwun­den, angeblich befand sie sich in den Fängen ­einer Sekte. Eine Version, die von myste­riösen Brie­fen, die von Zeit zu Zeit auftauchten und die Elisabeth unter Gewaltandrohung des Vaters geschrieben hatte, gestützt wurde.
Besonders perfide wirkt im Nachhinein, dass drei der sechs Kinder als angebliche »Enkelkinder« von Fritzl und seiner Frau adoptiert wurden. Die drei wurden als Babys 1993, 1994 und 1997 vor der Eingangstür des Hauses abgelegt, gemeinsam mit angeblichen Bittbriefen von Elisabeth, dass man sich um die Säuglinge kümmern möge, da sie selbst dies nicht könne. Die Behörden gingen der Sache nicht weiter nach, sahen sich in der Sekten-These bestärkt. Heute weiß man, dass es im Verlies einfach zu eng und zu laut geworden war.

Zwischen dem Fall Natascha Kampusch und den Verbrechen des Josef Fritzl gibt es einige Paral­lelen: Nicht in der Großstadt, sondern in einer Kleinstadt und in einem Vorort von Wien wurden die Taten begangen. Tatort ist nicht das Österreich aus dem Urlaubskatalog, weder dörf­liche Struktur noch Berge, weder bäuerliche Enge noch engmaschige soziale Kontrolle. Es ist das Österreich der Vorstädte, nicht Stadt, nicht Land, das Österreich der Siedlungen und Einfamilienhäuser, der hohen Thujen-Hecken, wo man einander zwar vom Sehen kennt, aber doch nicht so richtig, wo man einander grüßt, aber eigentlich nicht viel mehr vom Nachbarn weiß als seinen Namen; wo das Gerede der Talkshows das Wort der Pfarrer längst abgelöst hat.
Beide Täter waren technisch versiert, von Beruf Ingenieur. Wolfgang Prikopil, der sich vor seiner Festnahme durch die Polizei vor einen Zug stürzte, galt als eigenbrötlerisch und verschlossen, Josef Fritzl als herrisch, autoritär. Beide führten angeblich ein »perfektes Doppelleben«: Die ­Frauen an ihrer Seite – bei Prikopil war es die Mutter, bei Fritzl die Ehefrau –, wussten angeblich nichts von der Schattenexistenz – vom angeblich »perfekten Doppelleben«.
So will Fritzls Frau nichts von den Verbrechen ihres Mannes bemerkt haben. Dass er ganze Nächte im Keller verbrachte, war ihr zwar nicht entgangen, Fragen will sie ihrem Mann jedoch nie gestellt haben. Experten meinen, dass die Ehefrau die Machenschaften ihres Ehemanns geahnt haben könnte und sie »verdrängt« habe. So unglaublich das klingt, Psychologen halten es für möglich: In Familienstrukturen, die von Gewalt und Missbrauch geprägt sind, scheint das Wegschauen geradezu typisch zu sein. Die patriarchale Autorität ist absolut und darf nicht hinterfragt oder gar angetastet werden. Nicht-Sehen-Dürfen werde zu einem Nicht-Sehen, das das Verbotene aus der Wahrnehmung ausblende.
Aber was ist mit den Personen, die dem Täter nicht unmittelbar unterworfen waren – wie etwa Mieter, Nachbarn oder Behörden? Eine »normale Familie« seien die Fritzls gewesen, war aus verschiedentlich zu hören. Bis zum Bekanntwerden des Falls wollte anscheinend niemand bei dem »Familientyrann« an­ecken, obwohl sein herrisches Verhalten vielen aufgefallen war. Schließlich gab es da ja noch die nette Mutter, die die ausgleichende Rolle übernahm: sich angeblich »aufopfernd« um die Kinder kümmerte, freundlich war und gesprächig. Und vermutlich litt – aber das galt wohl auch als normal in der Wahrnehmung vieler. Die Elemente der Gewaltbeziehung, die nach außen drangen, wurden als Privat­sache interpretiert.

Bislang gaben sich die Behörden sehr selbstbewusst, ein grobes Versäumnis konnte noch nicht festgestellt werden. Freilich gibt es einige Ungereimtheiten: Wie konnte die Adoption der drei an­geblichen »Enkelkinder« so einfach vonstatten gehen? Warum wurden die Behörden nicht stutzig? Außerdem war Josef Fritzl 1967 wegen Vergewaltigung schon 18 Monate in Haft gewesen. Allerdings war die Tat zum Zeitpunkt der Adoption bereits aus dem Strafregister gestrichen. Adop­tion unter Angehörigen gilt in Österreich als wün­schenswert – man vertraut auf die »heile Familie«. Kritik gibt es auch an den polizeilichen Ermittlern. Hätte man nicht stärker nach Elisabeth suchen müssen? Die Sekten-These, heute klingt sie naiv, sei damals glaubwürdig gewesen, ver­teidigen sich die Behörden – noch.
In Österreich wird nun eine Reform der Verjährungsfrist bei Sexualstraftaten diskutiert. Justizministerin Maria Berger möchte die derzeitige – je nach Strafrahmen gestaffelte – Frist verdoppeln. Ob das im Fall Fritzl gegriffen hätte, darf be­zweifelt werden. Seine Strafe wurde nach zehn Jahren aus dem Register gelöscht. Nach dem neuen Vorschlag wäre die Strafe erst 1987 getilgt wor­den. 1993, bei der Adoption des ersten mit seiner Tochter gezeugten Kindes, wäre der Täter für die Behörden also auch unbescholten gewesen.