»Quellcode« von William Gibson

Container voller Angst

William Gibson, der Vater des Cyberpunk, hat mit »Quellcode« einen Roman über undurchsichtige Bedrohungslagen geschrieben.

Wer heutzutage nicht verwirrt ist, ist wahrscheinlich psychotisch«, lässt William Gibson eine seiner Romanfiguren sagen. Diese Aussage ist so etwas wie die formale und inhaltliche Quintessenz seines neuen Buches »Quellcode«. Entweder man akzeptiert das unentwirrbare Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit vieler Modernen im globalen Dorf, das WWW als Sinnbild, oder man gibt sich einer Paranoia seiner Wahl endgültig hin.
Nach dem 2004 erschienenen Roman »Mustererkennung« (»Pattern Recognition«) ist »Quellcode« der zweite Roman, der in der Gegenwart spielt, wobei William Gibson ja mit Science-Fiction, und vor allem mit seiner »Newromancer«-Trilogie, berühmt geworden ist. Nun, der vom Verlag gewählte deutsche Titel »Quellcode« ist ein Missgriff. Schließlich ist Gibsons neuester Roman, was technische Visionen angeht, der bisher anspruchsloseste. Das darin verwendete Technikvokabular beschränkt sich auf Begriffe wie W-Lan, GPS und PowerBook, alles Termini, die mittlerweile wohl in den Allerweltswortschatz aufgenommen sein dürften. Als Verschlüsselungsstandard für W-Lans kennt er nur das – längst geknackte – veraltete WEP und nicht etwa die sichere Methode WPA, die schon seit mehreren Jahren Standard ist. Für einen Sci-Fi-Autor ein arg entschiedenes Zurückfallen hinter die technologischen Entwicklungen der Gegenwart – nicht das einzige nos­talgisch rückschauende Element des Buches.
Deswegen ist der mehrdeutige Originaltitel »Spook Country« – der etwa mit »Land der Gespenster« oder »Land der Spione« übersetzt werden kann – weitaus treffender. Denn Gibson schildert eben die Nach-9/11-Realität der USA. Ein Land, das vom Kampf gegen den Terror und dem, was es dafür hält, geprägt wird.
Die Geschichten der drei Protagonisten laufen parallel nebeneinander her: Einmal ist da Hollis Henry. Sie soll für das geplante, extrem hippe Magazin Node die neue Kunstform der »Locative Art« in Los Angeles recherchieren. Es handelt sich hierbei um virtuelle Rauminstallationen, die mit W-Lans erzeugt, via GPS aufgefunden und mit speziellen Helmen angesehen werden können. Dem Helmträger wird inmitten der realen Umgebung etwa der Schauspieler River Phoenix auf dem Boulevard, im Drogentod gekrümmt, imaginiert. Oder überdimensionierte Kraken, mit einer Textur aus Videobildern überzogen. Diese Reportage ist Hollis’ erster großer Auftrag in ihrer zweiten Kar­riere als Journalistin, noch aber wird sie allerorten als die ehemalige Rocksängerin der Band The Curfew erkannt. Die Schatten ihrer erfolgreichen Vergangenheit, ihr eigenes Gespenst, begleiten sie also weiter.
Tito hingegen agiert als Kleinkrimineller im mafiösen Geflecht seiner vielköpfigen Verwandtschaft. Mit seinem kubanisch-chinesischen Hintergrund ist er der personifizierte (Alb-)Traum des Melting Pot. Tito gelingt es, auch sein kubanisches Erbe, das aus einem starken Glauben an die Macht der afroamerikanischen Religion Santería und aus soliden Russischkenntnissen besteht, in den nordamerikanischen Alltag zu integrieren.
Auch Milgrim beherrscht das Russische und kann so die in Volapuk verfassten SMS, die an Tito gehen, dechiffrieren. Volapuk – nicht zu verwechseln mit der dem Esperanto ähnlichen Kunstsprache Volapük – diente in der Frühzeit der Computerkommunikation dazu, kyrillische Buchstaben mit Hilfe des lateinischen Alphabets zu kodieren, was eine Art digitales Kauderwelsch ergab. Gibson greift also auch hier in die technologische Mottenkiste.
Mit Milgrim erfindet er jedoch einen sehr zeitgemäßen amerikanischen Charakter. Der tablettenabhängige Milgrim wird von dem ehemaligen Regierungsagenten Brown gekidnappt und von diesem über Wochen gefangen gehalten, wobei sich der Junkie Milgrim an der Rundumversorgung mit pharmazeutischen Drogen seiner Wahl erfreut. Die Freiheit seines Willens tauscht er gegen die Geiselhaft bei einem einsilbigen, rechtsradikalen Agenten ein, der im extralegalen Bereich operiert.
Milgrim gelingt es allerdings, als einer der wenigen Figuren des Romans, über seine unmittelbare Lage hinaus zu reflektieren:
»›Eine Nation‹, so hörte er sich selbst sagen, ›gründet auf Gesetzen. Eine Nation gründet nicht auf ihrer Situation zu einer bestimmten Zeit. Wenn die Moralvorstellungen eines Individuums situationsabhängig sind, hat dieses Individuum keine Moral. Wenn die Gesetze einer Nation situationsabhängig sind, hat diese Nation keine Gesetze und ist bald keine Nation mehr.‹ Er öffnete die Augen, um sich zu vergewissern, dass Brown dastand, seine halb auseinander genommene Pistole in der Hand. Das Säubern, Schmieren und die Überprüfung der Mechanismen im Innern der Pistole war ein Ritual, das alle paar Abende vollzogen wurde.«
Und aus Milgrims drogenvernebeltem Hirn entspringt auch das klarste politische Statement, wenn er fragt: »Habt ihr wirklich so große Angst vor Terroristen, dass ihr die Strukturen demontieren wollt, die Amerika zu dem gemacht haben, was es ist?« Diese Figurenrede ist voller Ironie. Denn einerseits lässt hier der obdachlose Junkie, der es selbst nicht fassen kann, was er da sagt, seinem Verfassungspatriotismus freien Lauf, anderseits haben natürlich genau die Strukturen, deren Demontage er beklagt, zu eben dem gegenwärtigen Zustand von Staat und Gesellschaft geführt. Die Haltung der Opposition, wenn sie denn hier das Wort führt, wird mehrfach ironisch gebrochen, und Gibson verweigert hier den allzu einfachen, billigen Ausweg in Verschwörungstheorie und Widerstand.
Alle diese drei Figuren, Hollis, Tito und Mil­grim, machen sich im Laufe des Romans, nicht weil sie wollen, sondern weil sie dazu genötigt werden, auf, nach einem ominösen Container zu suchen, der voll mit Dollars steckt, die ursprünglich für den Wiederaufbau des Irak gedacht waren, nun aber von Profiteuren des Kriegs in eigene Taschen abgezweigt werden sollen.
Dabei steht die Black Box des Containers, über dessen Inhalt zuerst nur spekuliert werden kann, für die Globalisierung der Welt. Denn ohne Standardverpackung auch kein weltweiter Handel. Dieses Sinnbild hat wiederum seine Entsprechung in der Computerwelt: Denn das Internetprotokoll TCP/IP verpackt Daten jedweder Art, ob Töne, Sprache, Bilder oder Text, auch in Container und schickt sie so um die Welt. Gibson gelingt in »Quellcode« eine realistische Darstellung der Welt, er versucht, ihre Funktionsweisen so genau als möglich abzubilden. Dieses durchaus kühne Unterfangen führt allerdings dazu, dass seine Romanfiguren psychologisch wenig interessant wirken. Sie agieren eher als Avatare, als bloße Platzhalter ohne Eigenleben in einem gigantischen Videospiel. Man verfolgt ihr mühevolles Ringen mit den Dämonen und Maximen ihrer Vergangenheit, sei es aus der Zeit vor 9/11 oder aus einer abgeschlossenen Rocksängerkarriere, und ihre Versuche, die dabei gemachten Erfahrungen in die Jetztzeit zu retten – lebendiger agieren sie deshalb nicht. Es gibt keinen Raum mehr für ausgebildete Personen, wenn Distinktion und Persönlichkeitskonstitution nur noch durch das Tragen von interkontinentalen Designerlabels möglich ist.
Der ehemalige Science-Fiction-Autor William Gibson verzichtet in seiner nüchternen Zustandsbeschreibung auf jegliche Technikutopie. Ja, weitaus radikaler, sogar auf jegliche Technikkritik. Er zeichnet eher das Auf und Ab von Moden und technologischen Entwicklungen, die einander nicht ablösen, sondern gleichzeitig nebeneinander existieren. Das kulminiert, wenn zum Schluss ein Lied von Hollis’ alter Band auf Chinesisch neu einstudiert werden soll, um Autos aus China zu bewerben, und damit gleichzeitig ausgerechnet mit dem Medium Musikvideo – das ja toter als tot ist – die ganz neue »Locative Art« am Kunstmarkt durchgesetzt werden soll. Das ist kein ironischer Schluss, das ist Verachtung des Weltzustands.

William Gibson: Quellcode. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schaeffler. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 450 ­Seiten, 22,50 Euro