Der Film »Warum Israel« von Claude Lanzmann

Darum Israel

Claude Lanzmann – sein Name ist verbunden mit dem neunstündigen Doku-Epos »Shoah« (1985), ­in dem er Zeitzeugen nach ihren Erinnerungen an den Holocaust befragt. Sein erster Film aus dem Jahr 1972 beschäftigt sich mit dem Staat ­Israel und seinem Selbstverständnis, ­seinem ­religiösen und ­politischen Fundament und seinen Bürgern. »Pourquoi Israël« erscheint zum 60. Jahrestag der Staatsgründung in Deutsch­land auf DVD.

Am 6. Oktober 1973 feierte Claude Lanzmanns erster Film »Pourquoi Israël« – »Warum Israel« – in New York Premiere. Am selben Tag begann der Jom-Kippur-Krieg. Ein seltsamer Zufall, der die weitere Re­zeptionsgeschichte des Films beeinflussen sollte. Der offizielle Starttermin in Frankreich am sechsten Tag des Kriegs war von diesem überschattet, und viele Rezensionen verpassten dem Filmtitel nachträglich ein Fragezeichen, was Lanzmann bis heute immer wieder zu Stellungnahmen nötigt. »Dieses Fragezeichen habe ich oft gesehen, und jedes Mal war es wie eine Wun­de, eine Beleidigung«, sagte er 2006 bei einem Podiumsgespräch über den Film.
Der Film hatte ein Kampfmittel gegen dieses Fragezeichen sein sollen, eine Antwort an Lanzmanns ehemalige Mitstreiter im Engagement für den antikolonialen Kampf Algeriens, die sich nach dem Sechs-Tage-Krieg gegen die »neuen Nazis in Israel« gewendet hatten: »Ich habe also diesen Film gemacht, um ihnen zu antworten, ihnen zu sagen, dass Israel kein Volk von Mördern, sondern ein Volk von Flüchtlingen ist, ein Volk von alten Frauen.«
Fragezeichen setzt Lanzmann an anderen Stellen: Kann es so etwas wie Normalität in einem Land wie Israel geben? Was ist das überhaupt, Normalität? Oder jüdische Identität? Dies sind die zentralen Fragen, denen er in einem Mosaik aus Interviews mit den unterschiedlichs­ten israelischen Staatsbürgern nachzugehen versucht. Und die Antworten sind so widersprüch­lich und unterschiedlich, wie es zu erwarten ist in einem Land, das noch so jung und doch so beladen mit Geschichte ist, dessen Bevölkerung aus über 75 Ländern und Kulturen stammt und das sich in einem steten Wandel befindet. Einig sind sie sich alle jedoch in einem Punkt: Die Nor­malität Israels ist das eigentlich Anormale.
Das Bild eines Gefängnisses 1971 in Israel, mit jüdischen Gefangenen hinter gesicherten Zäunen, ist eine andere Normalität als die gleiche Situation in Frankreich. In einem Gespräch berichtet Lanzmann von einem Schlüsselerlebnis während seiner ersten Reise nach Israel 1952, damals mit dem Auftrag zu einer Reportage für Le Monde über den neu entstandenen Staat. Lanzmann ist als Sohn assimilierter französischer Juden ohne Bezug zu jüdischer Kultur und Tradition aufgewachsen, seine jüdische Identität speiste sich in erster Linie aus der Erfahrung des Antisemitismus – ein zentraler Ausgangspunkt für seinen Film ist Sartres Essay »Betrachtungen zur Judenfrage«. Er begibt sich auf die Reise nach Israel, im Gepäck nur die Vergangenheit. Als er 1948 in Berlin Philosophie lehrte, ging die Staatsgründung »in gewisser Weise gänzlich an mir vorbei«, nun konfrontiert er sich selber mit dieser Welt. Auf dem israelischen Schiff voller Auswanderer, mit dem er über­setzt, betritt am Morgen eine israelische Frau seine Kabine und beginnt zu putzen. Lanzmann hat in der Résistance gekämpft, Deutsche getötet, und nun kniet eine Jüdin in seiner Kabine und schrubbt den Boden. Er erträgt die Normalität dieser Tätigkeit nicht und bittet die Frau aufzuhören. Sie hält ihn für verrückt, die Kabine bleibt bis zur Ankunft ungeputzt, und doch ist dies der Schlüssel zur Bauweise des Films. Amerikanische Juden, die zum ersten Mal das Land besuchen, werden von Lanzmann im Supermarkt dabei gefilmt, wie sie Sardinenbüch­sen und Thunfischdosen, hergestellt in Israel, in die Kamera halten. Sie sind begeistert von der Banalität und überwältigt von der Normalität, ebenso wie Lanzmann bei seinem ersten Besuch und seinem zweiten Aufenthalt während der Dreharbeiten von Dezember 1971 bis März 1972.
Die in dieser Zeit entstandenen über 50 Stunden Filmmaterial hat Lanzmann zu einem poeti­schen Essay über das Land zusammengeschnit­ten, dessen Reiz sich aus der Naivität des Interviewers schöpft, der versucht, die Eindrücke, die seinen ersten Besuch prägten, zu reaktivieren und zu reflektieren. Der Film kann dabei nicht mehr sein als eine Momentaufnahme, die Darstellung eines Zustandes in einem bestimm­ten historischen Moment, dessen Flüchtigkeit der bald darauf ausbrechende Krieg deutlich gemacht hat. Doch gerade diese Flüchtigkeit, das sich im Wandel Befindliche ist es, was auch die Interviewten und schließlich das Land selber prägt. Mit völligem Unverständ­nis begegnen Hafenarbeiter der Frage nach ihrem Verhältnis zu den Besserverdienenden. Es werde so etwas wie Klassenkampf in Israel nicht geben, antwor­ten sie, weil sie doch alle Juden seien, zufriedene Juden, und es zur Normalität eines Landes gehöre, dass es solche mit und solche ohne Geld gebe, außerdem seien sie im Krieg. Daneben steht der Konflikt zwischen den Aschkenasim, also den aus Mittel- und Osteurapa kom­men­den Juden, und den sephardischen Juden. Die nicht-europäischen Juden, die sich ab 1970 organisierten und nach ihren amerikanischen Vorbildern »HaPanterim ­HaShkhorim« – Black Panther – nannten, kämpften für ihre sozialen, kulturellen und politischen Rechte.
Ein anderer Gesprächspartner Lanzmanns versucht, ihm einen Zionismus für Tiere zu vermitteln, ein Rückkehrrecht für Tiere aus aller Welt, um Israel ein emotionaleres Image zu geben. All diese Stimmen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sie alle machen Israel aus. Lanzmanns Film ist der Versuch, diese Widersprüche in Israel zu zeigen und den Kampf des Landes, sie zu überwinden; kein Porträt eines starken, militanten und siegreichen Landes, wie seine ehemaligen Mitkämpfer es gerne sehen wollten, sondern ein Land voller divergierender Meinungen und Interessen.
Die Frage nach der anormalen Normalität, in einem jüdischen Staat zu leben, ist der rote Faden des Films, doch der Ausgangspunkt, auf den er – ebenso wie der Staat Israel – aufbaut und zu dem Lanzmann immer wieder zurückfindet, ist die Shoah.
»Pourqoui Israël« verwendet filmische Mittel, die Lanzmann in seinem Meisterwerk »Shoah« zur Perfektion getrieben hat: keine Kommentare, keine Voice-Overs, lediglich Montage von vorhandenem Material. »Warum Israel« ist der Auftakt einer Trilogie über jüdische Identität. In »Shoah« (1973 bis 1985), dem zweiten Teil, wird die Vorgeschichte des Staats erzählt, die Vernich­tung des europäischen Judentums. »Tsahal« (1991 bis 1994) setzt sich mit der Is­raeli­schen Armee auseinander, mit der Verteidigung der Existenz Israels.
»Pourquoi Israël« setzt mit einer Parallelmontage ein, die diesen Weg von Europa nach Israel nachvollzieht: Gert Granach, 1933 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands Deutschlands, singt wehmütige antifaschistische Lieder, gegengeschnitten sind Aufnahmen aus Yad Vashem. Die Shoah bildet den Auftakt des Films und den Schatten, aus dem Lanzmann versucht herauszutreten, um einen neuen Zugang zu seiner jüdischen Identität zu finden. In Yad Vashem begegnet Lanzmann auch der ersten Generation israelischer Juden, die nach der Shoah aufgewachsen ist.
Ihre Eltern sind mehrheitlich Überlebende, wie der Hauptkommissar Schmuel Bogler, der es auf Lanzmanns Frage hin nicht seltsam findet, Juden verhaften zu müssen. Dann berichtet Bogler, wie es sich anfühlt, auf Demonstrationen als Nazi beschimpft zu werden, um dann unvermittelt von Auschwitz zu erzählen, wo er seine gesamte Familie verloren hat. Das Grauen der Vergangenheit ragt in Israel in die Norma­lität der Gegenwart hinein. Dies wird noch einmal deutlich in der letzten Szene des Films. Im Archiv von Yad Vashem wird Lanzmann eine Liste der Ermordeten mit dem Nachnamen Lanzmann vorgelesen. Schweigend blickt er, den Rücken zur Kamera, auf das vergilbte Akten­material. Schnitt auf Granach, der »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« singt, Ende des Films. Auf diese Weise schreibt sich Lanzmann selbst in die Geschichte ein.