Istanbul nach dem 1. Mai

Das Trauma vom Taksim-Platz

In der Türkei wird noch über die politischen Folgen der Repression vom 1. Mai diskutiert. Nach der brutalen Gangart der Polizei dürfte das Verhältnis der Gewerkschaften zur Regierung der AKP endgültig erschüttert sein.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gibt sich gern volksnah. Die Kritik an der Regierungspartei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) nach der brutalen Polizeigewalt gegen harmlose Demonstranten am vergangenen 1. Mai fördert jedoch deutlich die Doppelmoral seiner Partei zu­tage. Offensichtlich ist das »Volk« für die AKP immer noch die konservative Jubeltruppe aus den Vororten, die Erdogan 1993 zum Oberbürgermeis­ter von Istanbul wählte. Dabei haben bei den vergangenen Wahlen auch gerade viele Linke AKP gewählt, weil sie es geschafft hatte, sich als Vertre­terin einer toleranten Politik zu Minderheitenfragen zu präsentieren und »mehr Demokratie« sowie »mehr soziale Gerechtigkeit« zu Wahlpa­ro­len erkoren hatte. Auch die Gewerkschaften pfleg­ten bisher ein Vertrauensverhältnis zur Regierung. Sie hatten beispielsweise kein Problem mit der Abschaffung des Kopftuchverbots.
»Die haben ja nicht mal 500 000 zusammengekriegt«, spottete Erdogan über den Versuch der Gewerkschaften, an den »Blut-Mai« von 1977 zu erinnern. Der Premier rechtfertigt bis heute ein Demonstrationsverbot am 1. Mai auf dem Tak­sim-Platz. Der »Revolutionäre Gewerkschaftsverband« Disk, der 1977 sehr stark war, ist heute ein eher zahmer Verein zur Anmahnung von Arbeiterrechten. Doch die Gewerkschaft kann sich derzeit mit ihrer Kritik an der Scheinheiligkeit der AKP Gehör verschaffen. Der Vorsitzende von Disk, Süleyman Çelebi, kritisiert zum Beispiel, dass die AKP seit über einem Jahr soziale Probleme nicht strukturell, sondern nur als Verteilung von Spenden und Sozialhilfe über private Stiftun­gen an die eigene Klientel zu lösen versucht. »Der Ministerpräsident möchte offensichtlich keine Arbeiter als politische Akteure, sondern nur Anhänger haben«, argumentierte Çelebi Anfang dieser Woche und sprach damit vielen aus der Seele, die den Verlauf dieses 1. Mai immer noch nicht begreifen können. »Hinter den Gewerkschaf­ten waren Plakate verbotener Organisationen zu sehen«, rechtfertigte der Premier das Vorgehen der Polizei. Doch zahlreiche Prügelszenen sind durch Bilder dokumentiert und erzählen eine an­dere Geschichte. Selbst aus der Polizeiakademie, die für die Modernisierung der türkischen Polizei zuständig ist, kommt mittlerweile Kritik. Prof. Ibrahim Cerrah, Autor eines Buchs über die Anpassung der türkischen Sicherheitspolitik an die europäischen Normen, sieht in den Ausschrei­tungen nichts anderes als die alte Prügelmentalität der türkischen Polizei.

Am Nachmittag des 1. Mai saßen Tausende Polizisten abgekämpft auf den Hügeln und Zufahrtsstraßen rund um Beyoglu. Ihre Gespräche drehten sich um lange Busfahrten ins Heimatdorf und wie viel sie kosten. Das durchschnittliche Profil des Istanbuler Sondereinsatzpolizisten: Er ist unter 30 Jahre alt, hat einen dörflichen oder kleinstädtischen, meist anatolischen Hintergrund und besitzt die in der Türkei nicht viel bedeutende Gymnasialausbildung plus eine Zusatzschulung an der Polizeiakademie. Dort wurde in der Vergangenheit viel paranoider Patriotismus verkündet, gleichzeitig wurden systematisch Feindbilder aufgebaut. Der traditionelle Polizeiapparat ist ultranationalistisch, diffus rechts-konservativ, aggressiv und chauvinistisch orientiert. Ein ausgeprägter Corpsgeist schaffte bislang immer einen entsprechenden Schutzraum für Straftaten im Dienst. Regelrechte Exekutionen bei Festnahmen – vor allem von verhassten Linken – waren in den neunziger Jahren noch an der Tagesordnung. Obwohl die Türkei mittlerweile versucht, dieses Profil durch Veränderungen an den Polizeiakademien zu ändern, sind die Sicherheitskräf­te immer noch als Schlägertruppe einsatzbereit.
Doch die Eskalation vom 1. Mai hat die ungebrochen autoritäre Haltung von Polizeiführung, Gouverneur und der konservativ-islamischen türkischen Regierung, also des gesamten tür­kischen Staatsapparats, gezeigt. Was für einen Grund gab es, um sieben Uhr morgens Gasgranaten in das überfüllte Gebäude des Gewerkschafts­verbandes Disk zu werfen? Verbarg der tagelang angekündigte, auf zwei Stunden begrenzte Demonstrationszug so viele Gefahren, dass es siche­rer erschien, einige hundert Teilnehmer durch die kleinen Seitenstraßen Beyoglus zu jagen und sogar in die Notaufnahme eines Krankenhauses eine Pfeffergasgranate zu werfen, weil Demons­tranten sich dorthin geflüchtet hatten? Der Gouverneur von Istanbul sowie Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sprachen von »deutlichen Hinweisen auf geplante Anschläge illegaler Organisationen«. Nach der Festnahme von etwas mehr als 500 Demonstranten wurden diese innerhalb eines Tages alle wieder auf freiem Fuß gesetzt. Drei von ihnen hatten unbedeutende Vorstrafen. Gegen die anderen lag nichts vor. Der Vorsitzende des Disk, Süleyman Celebi, sprach am Ende des Tages von »Staatsterror«.

Seit 1977 sind Mai-Demonstrationen auf dem Taksim-Platz verboten. Nach dem Putsch von 1980 wurde der 1. Mai als Feiertag sogar ganz abgeschafft. Die Demonstration von 1977 wurde zu einem Trauma für die Linke, und die Vergangenheit wirkt bis heute fort. Der Gewerkschaftsführer von Disk war damals gerade am Ende seiner Rede angelangt, als das Geräusch von drei Schüssen zu hören war. Nach einem Moment der Totenstille brach Chaos aus. Rund 500 000 Menschen liefen panisch auseinander. Personen, die in nahe gelegenen Gebäuden auf der Lauer lagen, im Intercontinental Hotel (das heute »Marmara Istanbul« heißt) und im Gebäude der Wasserbehörde, schossen in die Menge hinein. Dann traten gepanzerte Fahrzeuge in Aktion. Schockgranaten und Schüsse aus automatischen Waffen verwandelten das Gelände in ein Schlachtfeld. Immer größere Panik breitete sich aus. Tausende Menschen blieben einfach dort liegen, wo sie waren, viele von denen, die weglaufen wollten, wurden von gepanzerten Fahrzeugen überfahren. Tagelang standen damals Schuldzuweisungen auf der Tagesordnung der Türkei. Während die Linke den Vorfall als »Provokation der Nationalistischen Front unter Anleitung der CIA« bezeichnete, behaupteten Vertreter der Polizei und der bürgerlichen Medien, dass »Linksextremisten mit dem Schießen angefangen haben«. Am 7. Mai 1977 erregte der damalige Oppositionschef Bülent Ecevit wenig Aufsehen mit seiner Bemerkung über die Rolle der Konterguerilla bei dem Massaker. In der Gerichtsverhandlung gab es jedoch Zeugenaussagen, die auf eine Beteiligung der US-amerikanischen Geheimdienste an der Ak­tion hinwiesen, mittlerweile wurde sie in der Tür­kei mehrfach bestätigt. Der Militärputsch von 1980 erlaubte es dem türkischen Militär, die Linke weitgehend zu zerschlagen, damals sollte das den Vormarsch des Kommunismus unterbinden, um den treuen Nato-Partner als sicheres Bollwerk gegen die Sowjet­union zu wissen.
Die Türkei ist heute nicht mehr die von damals. Doch die verantwort­lichen Funktionsträger verhalten sich immer noch so, als habe 1977 ein chao­tischer linker Mob die Eskalation verursacht. Dieses Jahr hatte es vor dem 1. Mai eine politische Auseinandersetzung mit angemessenen Forderungen gegeben: dass der 1. Mai wieder ein gesetz­licher Feiertag wird, mehr Rechte für Arbeiter nach 31 Jahren Demonstrationsverbot auf dem Taksim-Platz auch in Erinnerung an die Opfer von damals. Die anhaltende Rechtfertigung des Polizeieinsatzes seitens der Regierung ist ein Grund für Ernüchterung, vor allem bei den Links­liberalen, die der Regierungspartei mit verhaltener Sympathie begegnen. Der linke Kolumnist der Tageszeitung Radikal, Sungur Savran, schrieb in den vergangenen Tagen: »Die Träume der türkischen Linken nach Annäherung und Liberalisie­rung sind am 1. Mai in einem Trümmerhaufen versunken.«