Eine bolivianische Provinz votierte für Autonomie

Ein Volk, das es nicht gibt

Bei einem Referendum stimmte die Bevölkerung in der bolivianischen Provinz Santa Cruz für Autonomie. Kein »kultu­reller Befreiungskampf«, sondern ein Angriff des »Imperiums«, sagen viele Linke.

Normalerweise freuen sich große Teile der Linken, wenn irgendwo auf der Welt eine Bevölkerungsgruppe mit viel Fahnen und Folklore auf die Straße geht, um für sich die Unabhängigkeit einzufordern. Bereits beim Kosovo wurden jedoch Widersprüche deutlich. Von der katalanischen und baskischen Linken ausdrücklich be­grüßt, bereitete der neue Staat vielen Linken aus anderen Ländern Probleme. Denn die Unabhängigkeit wur­de von der EU und von den USA unterstützt, von der »Schwächung des Balkans« und einem »impe­rialistischen Feldzug« war in vielen linken Me­dien die Rede.
Die Parole vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« ist die Grundlage für die Unterstützung separatistischer Bewegungen. Doch wenn die Bevölkerung US-Flaggen schwenkend ihre Unabhängigkeit feiert, kann etwas nicht stimmen. Viel­leicht handelt es sich gar nicht um ein echtes »Volk«?
Zumindest ist das die Meinung von Teilen der Linken im aktuellen Autonomiekonflikt in Bolivien. Die wohlhabende Region Santa Cruz hat am 4. Mai in einem Referendum mit über 80 Prozent der Stimmen für eine weitreichende Autonomie gestimmt. Das Autonomiestatut wurde in starker Anlehnung an die spanischen Regionalverfassungen geschrieben. Eigentlich ein Fall für die Internationalisten. Jedoch »fabulieren die Betreiber des Statuts ein ›Volk von Santa Cruz‹ herbei, was es anders als im Fall der Basken oder Katalanen historisch nicht gab«, schriebt etwa Ralf Streck auf Indymedia.
Zudem gehört Bolivien zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und wird von Evo Morales regiert, dem ersten indigenen Präsidenten Latein­amerikas. Morales sah die »nationale Einheit« dahinschwinden und rief zur internationalen Solidarität gegen die »Verschwörung, angeführt von der US-amerikanischen Botschaft«, auf. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez solidarisierte sich als erster mit Morales gegen die »Faschisten« in Santa Cruz und die dahinter stehende »Politik des Imperiums«. Andere linke Staatschefs aus Lateinamerika gesellten sich hinzu.

Im internationalen Solidaritätsaufruf wurde vor der »Konspiration« und einem weiteren »imperialistischen Störmanöver« gewarnt, die »subversiven und verfassungsfeindlichen Aktionen« seien »Ausdruck einer rassistischen und elitären Mentalität«. Weiter heißt es dort: »Die Geschichte beweist in bedauerlicher Fülle, dass separatistische und spalterische Tendenzen für die Menschheit schreckliche Folgen in allen denkbaren Bereichen gehabt haben und stets von mächtigen Fremdinteressen beeinflusst wurden.«
Das passt nicht recht zur sonst beschworenen Solidarität mit den »unterdrückten Völkern«, die einen eigenen Staat fordern. Würde die Autonomiebewegung gegen eine rechte Regierung für ein »freies Santa Cruz« kämpfen, wäre die Solidarität den Cruceños wohl sicher gewesen.
Ein Blick auf die Forderungen des Comité Cívico pro Santa Cruz (Bügerkomitee für Santa Cruz), einem der Hauptakteure der Autonomiebewegung, zeigt Parallelen zu linken Unabhängigkeits­diskursen auf. Da ist von langen Traditionen und »historischer Identität« die Rede, die bewahrt werden sollen. Gefordert wird ein pluralistisches und demokratisches Bolivien, in dem crucenische Lebensweise nicht von der »andinen« (gemeint ist indigenen) Kultur assimiliert wird.
Nach Meinung der Autonomiegegner wollen die reichen Nachkommen der Kolonialisten ihre weiße Kultur und den Kapitalismus gegen eine indigene Machtübernahme und die sozialistische Umgestaltung der Produktionsverhältnisse verteidigen. Zu einem Teil stimmt das. Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« erschöpft sich bislang zwar in radikaler Umverteilungspolitik. Doch bereits das ist für viele Cruceños unerträglich, etwa für die rechtsextreme separatistische Schlägertruppe Unión Juvenil Cruceñista, die eng mit dem Bürgerkomitee verbunden ist und regelmäßig Indigene und Mitglieder sozialer Bewegungen angreift.

Das Referendum war weder eine Reaktion auf soziale Marginalisierung noch auf ethnische Diskriminierung, auch wenn rassistische Zuschreibungen auf beiden Seiten eine Rolle spielen. In Santa Cruz und den drei anderen Regionen, die Autonomie oder Unabhängigkeit fordern und wegen ihrer geografischen Anordnung »Halbmond« genannt werden, konzentriert sich der Großteil der Rohstoffvorkommen des Landes. Die dortigen Großgrundbesitzer, zumeist Nachkommen europäischer Einwanderer, sehen mit Sorge die Agrarreform und Verstaatlichungen der Regierung, sie warnen vor der »Kubanisierung« Boliviens. Zuletzt hatte Morales drei Tage vor dem Referendum die Verstaatlichung dreier weiterer Ölfirmen und der größten Telekomfirma bekannt­geben. Die Oberschicht aus dem bolivianischen Tiefland will Veränderungen nicht akzeptieren, die sie Macht und Privilegien kosten. Sie will weiterhin die Ressourcen kontrollieren, die das Land, in dem über 60 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, benötigt, um aus der Misere herauszukommen.
Trotzdem ist der Konflik nicht die jüngste konterrevolutionäre Erfindung des »Imperiums«, das Abstimmungsverhalten folgte nicht den Klassenverhältnissen. Denn wenn man die fast 40 Prozent Nichtwähler dem Boykott der Morales-­Anhänger zuschreibt und mit den Nein-Stimmen addiert, zeigt sich, dass immerhin die Hälfte der Wahlberechtigten in einer Region, die ein Viertel der Bevölkerung stellt, für die Auto­nomie gestimmt haben. Am Tag des Referendums gab es bei Zusammenstößen mehrere Dutzend Verletzte und einen Toten auf Seiten der ­Regierungsanhänger. Diese blockierten Straßen und griffen Wahllokale an. Im armen Stadtviertel Plan 3 000 in Santa Cruz errichteten Autonomiegegner Barrikaden und verbrannten Wahl­urnen. In mehreren Urnen sollen dabei bereits vor Öffnung der Wahllokale Stimmzettel mit ­angekreuztem »Ja« gefunden worden sein. Obwohl die Regierung stets betont hatte, dass das Referendum »illegal« sei, will Morales nun doch erstmal mit der Opposition verhandeln. Das für Montag geplante erste Gespräch wurde jedoch von den Repräsentanten der Autonomiebewegung boykottiert.
Es offensichtlich, dass die Autonomiebestrebungen in Bolivien dem Wunsch nach Sicherung von Macht und Ressourcen für die »Eigenen« entsprechen. Offensichtlich ist aber auch, dass nicht allein die Großgrundbesitzer gegen Morales gestimmt haben, die Forderung nach Autonomie ist vielmehr Zeichen einer allgemeineren Unzufriedenheit. Und sie könnte ein Anlass sein, über den Sinn ethnisch-kultureller Zuschreibungen als Legitimation politischer Forderungen nach­zudenken.