Personalwechsel in der russischen Staatsführung

Umzug ins Weiße Haus

Der Personalwechsel in der russischen Führung ist vollzogen. Nun rätseln Russen und Ausländer darüber, wie das neue Spitzenduo die Macht aufteilen wird.

Mit der pompösen Militärparade auf dem Roten Platz am 9. Mai anlässlich des 63. Jahrestags des Sieges über Deutschland betrat der Zivilist Dmitrij Medwedjew ganz neues Terrain. Schließlich folgte er der feierlichen Darbietung modernster Militärtechnik erstmals in der Eigenschaft als Oberkommandierender der russischen Streitkräfte. Erst zwei Tage zuvor hatte er das Amt des Präsidenten angetreten. Damit ist der 42jährige auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Von nun an gilt es, die Stellung so lange wie möglich zu halten.
Aber Medwedjew saß nicht allein auf der Tribüne, sondern neben seinem Ziehvater und nunmehrigen Vorgänger Wladimir Putin, der ihm, so hat es den Anschein, auch in den kommenden Jahren nicht von der Seite weichen wird. Ob indes mit gutgemeintem väterlichem Ratschlag oder der Strenge des eigentlichen Machthabers, der auf eine Gelegenheit wartet, den eben verlorenen Posten erneut einzunehmen, ist noch offen und bietet zahlreichen Beobachtern und Kommentatoren Raum für teils absurd anmutende Spekulationen. Jede Geste und jegliche Veränderung der Mimik erfährt eine Deutung. Noch fällt es vielen schwer, sich an die neue personelle Rangordnung im Land zu gewöhnen.

Ganz im Einklang mit dem Deal des neuen Führungsduos, der die »Operation Nachfolger« überhaupt erst ermöglicht hatte, gab der neue Präsident in einer seiner ersten Amtshandlungen der Duma seinen Wunschkandidaten für den Posten des Premierministers bekannt. Die Parlamentsabgeordneten stimmten diszipliniert mit einer überwältigenden Mehrheit für Wladimir Putin. Nur die Fraktion der Kommunistischen Partei sprach sich erwartungsgemäß gegen ihn aus. Putin wurde mit 392 von 450 Stimmen gewählt, ein Rekordergebnis.
Nun bricht eine neue Epoche in der russischen Politik an, der bislang in der Praxis das System einer Doppelspitze fremd war. Die Rolle des Regierungschefs beschränkte sich in der Vergangenheit auf die Bewältigung von Managementaufgaben, während sich der Verfassung zufolge die Macht im Staat in der Person des Präsidenten vereinigt. Dass Premierminister Putin sich auf Verwaltungsaufgaben beschränken wird, ist jedoch nur schwer vorstellbar.
Als Putin sich Mitte April auf dem Parteitag seiner Hauspartei »Einiges Russland« bereit erklärte, deren Vorsitz zu übernehmen, wirkte dies auf den ersten Blick wie ein Versuch, den drohenden Machtverlust zu kompensieren. Mitglied der Partei will Putin allerdings nicht werden. Das mag für den Betrachter ungewöhnlich wirken. Berücksichtigt man allerdings den Umstand, dass keine der in der Duma vertretenen kremlnahen Fraktionen, weder das »Einige Russland« noch die sich als regierungstreue linke Alternative etablierende Partei »Gerechtes Russland«, geschweige denn die rechtspopulistischen Liberaldemokraten unabhängige Organisationen sind, die Interessen ihrer Mitglieder bzw. sozialer Schichten vertreten, erübrigt sich die Frage nach dem Parteibuch. Bei einem politischen Konjunkturwechsel würde der Großteil der Parteibasis ohnehin in Windeseile die alte Fahne gegen eine neue eintauschen.

Sollte ein Streitfall zwischen Präsident und Premierminister zu einem ernsthaften Konflikt ausarten, im Zuge dessen das Parlament gar ein Amts­enthebungsverfahren gegen das Staats­ober­haupt einleiten könnte, dürfte Putin sich keineswegs auf seine Autorität als Parteivorsitzender verlassen. Die Partei zieht aus Putins Vorsitz mehr Nutzen als umgekehrt. Dadurch wird sie weniger angreifbar und ist eher in der Lage, Einheit zu demonstrieren, als dies unter einer anderen Führung denkbar wäre. Sollte Medwedjew hingegen beschließen, die Doppelspitze zu beenden und die Rolle des Premiers mit einer politisch schwächeren Figur besetzen wollen, so könnte er laut Verfassung die Regierung samt Parlament auflösen.
Aber für den Augenblick handelt es sich hierbei lediglich um theoretische Spielereien, und Medwedjew tritt nicht mit dem Anspruch auf Alleinherrschaft an. Die russische Politik wirkt geheimnisvoll, ist jedoch wesentlich pragmatischer, als es den Anschein hat. In der Hierarchie ganz oben zu stehen, bedeutet längst noch nicht, alle Fäden in der Hand zu halten. Selbst der Kult um den zum nationalen Führer stilisierten Wladimir Putin bedarf für seinen Erhalt mehr als die dauerhafte mediale Präsentation des Mannes, der Russland nach der krisenhaften wilden Privatisierungsphase der neunziger Jahre stabilisiert und ihm zu neuem außenpolitischem Einfluss verholfen hat.
Entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen innerhalb der russischen Führung sind weniger die parlamentarischen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen als die Fähigkeit der Hauptakteure, die Kontrolle über real existierende materielle Ressourcen auszu­üben. In dieser Hinsicht decken sich die Interessen Putins und Medwedjews. Beide haben ihren größten Rückhalt in den Strukturen rund um den Ener­giekonzern Gazprom und werden sich somit um eine pragmatische, möglichst reibungsarme Kooperation bemühen. Dafür braucht es nicht zuletzt eine sinnvolle und effektive Arbeitsteilung und ein Signal nach außen, welche Fragen zukünftig wie gewohnt auf den Fluren der Präsidialadministration zu regeln sind und in welchen Fällen ein Besuch im Weißen Haus, dem Sitz der Regierung, angebracht ist.
Vieles spricht dafür, dass sich vorerst wenig ändern wird. Medwedjew hat alle Entscheidungen der Ära Putin mitgetragen und steht für die Fortsetzung des bisherigen Kurses. Auch rhetorisch eifert er seinem Vorgänger nach. Bei seiner Antrittsrede unterstrich er die große Bedeutung der Rechte und Freiheiten des Menschen. Als seine Ziele benennt er den Kampf gegen die Korruption, den Aufstieg einer wachsenden Zahl russischer Bürger zur Mittelschicht sowie die Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens. Als ausgebildeter Jurist hob er insbesondere die »fundamentale Rolle« des Rechtswesens hervor, die sich in der Achtung vor dem Gesetz und der Überwindung des Rechtsnihilismus manifestiere, den er als entscheidendes Hindernis für die Entwicklung des Landes einstuft.

Was nach politischer Liberalisierung klingen mag, zieht jedoch vorerst keine spürbaren Konsequenzen in Russland nach sich. Anders in der Außenpolitik. Medwedjews moderates Auftreten findet im Westen durchaus Anklang. Der Präsidentenwechsel könnte zur Entspannung der Beziehungen zu Großbritannien beitragen und nach dem Abtreten des US-Präsidenten George W. Bush, den mit Putin ein freundschaftliches persönliches Verhältnis verbindet, wird es Medwedjew vermutlich leichter fallen, eigene Akzente zu setzen.
Gespannt sein darf man auch auf die anstehenden Veränderungen innerhalb der Regierung und in Medwedjews präsidialem Apparat. In Putins neuem Kabinett werden Minister der alten Regierung ihre Posten behalten, wie der Innenminister Raschid Nurgalijew. Der Premierminister hat jedoch auch neue Posten geschaffen, z.B. für die Entwicklung im ländlichen Raum. Die Tageszeitung Kommersant berichtete, Putin habe dem bekannten Oppositionspolitiker von der Jabloko-Partei Grigorij Jawlinskij ein Angebot unterbreitet. Ein listiger Schachzug, der sich bei Bedarf sowohl nach einer Zusage als auch einer Absage propagandistisch ausschlachten lässt. Die Partei von Putins Widersacher Michail Kasjanow, der während dessen erster Amtszeit als Präsident selbst den Posten des Premierministers bekleidete, lehnt hingegen kategorisch jegliche Zusammenarbeit ab. Es sei denn, die Ergebnisse der letzten Dumawahlen würden revidiert. Doch so weit wird es erstens nicht kommen, und zweitens hat bislang niemand Kasjanow um eine Zusammenarbeit gebeten.
Dmitrij Medwedjew war lange genug in der Präsidialadministration tätig, um das heikle Zusammenspiel der unterschiedlichen Fraktionen in Putins Gefolgschaft kennenzulernen. Über kurz oder lang wird er Schlüsselpositionen mit Männern seines Vertrauens besetzen und damit auch die Interessen der im Kampf um die Präsidentschaftsnachfolge unterlegenen Hardline-Fraktion im Kreml tangieren. Einige Veränderungen sind bereits abzusehen. So wird beispielsweise Igor Setschin, Aufsichtsratsvorsitzender des Ölkonzerns Rosneft und Drahtzieher im Hintergrund, dem unlängst noch Putschgelüste nachgesagt wurden, aus dem Präsidialapparat als Vizepremierminister ins Weiße Haus wechseln.

Doch selbst wenn man den alltäglichen Kampf der Apparatschiks untereinander ausblendet, bleiben immer noch genügend andere Herausforderungen bestehen. Seit dem Zerfall der Sowjet­union war die russische Politik auf die Umverteilung lukrativer Vermögenswerte ausgerichtet. Unter Boris Jelzin stieg die durch Aneignung vormaligen Staatseigentums begünstigte Oligarchie zur Macht auf. Wladimir Putin ließ die unter seinem Vorgänger gemischten Karten neu verteilen. Anders als Jelzin tritt Putin jedoch nicht von der politischen Bühne ab. Würde er jeglichen Einfluss verlieren, ginge er das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfen ein.
Demnach steht weniger die Veränderung der Eigentumsverhältnisse als deren Stabilisierung und die Modernisierung der Wirtschaft auf dem Plan. Zudem sorgen horrende Preissteigerungen in der Bevölkerung für wachsende Unzufriedenheit, die Putin als Premierminister mehr zusetzen wird als in seiner Eigenschaft als »Vater der Nation«.