Der Dalai Lama kommt zu Besuch

Wolkenkuckucksheim am Himalaya

Der Dalai Lama kommt zu Besuch. Roland Koch und andere seiner deutschen Anhänger beschwören mit dem dauerlächelnden Mönch den drohenden »kulturellen Genozid« an den Tibetern und fordern einen Zuzugsstopp für Chinesen.

»Omanememe, omanememe … « – ein Mann spricht fünf Minuten lang diese Silben in das Megaphon. Etliche Teilnehmer der Kundgebung murmeln mit. So erfährt man zwar nichts über das Anliegen der Demonstranten. Aber man erhält eine Lektion in Buddhismus: Man muss sich in Geduld üben. Im Anschluss singt fünf Minuten lang ein Mann auf Tibetisch. Wer, wie der Großteil der etwa 100 Protestierenden vor der chinesischen Botschaft in Berlin, der Sprache nicht mächtig ist, versteht nichts.
Dann dürfen alle mitmachen. Der Mann am Megaphon gibt die Parolen vor, die anderen sprechen nach: »Free Tibet!« Oder: »Stop genocide in Tibet!« Auch: »Gerechtigkeit für Tibet!« Oder: »Stop killing in Tibet!« Auch der Sprechchor entpuppt sich als Mantra. Denn die Parolen werden 20 Minuten lang wiederholt. Kaum für Abwechslung sorgt da der Spruch: »Lang lebe der Dalai Lama!«

Den lächelnden Mönch gibt es auf einem Plakat zu sehen, das eine Frau hochhält. Es wirkt ein wenig befremdlich inmitten der Transparente, auf denen farbenprächtige Fotos verstümmelter Folteropfer abgebildet sind: Leichenbeschau trifft auf Führerkult. Die Tibet-Flagge ist jedoch das beliebteste Accessoire der Demonstranten. Männer, die Trekking-Sandalen, Wanderschuhe oder auch Birkenstock zu Hosen aus dem Campingfach­handel tragen, halten Fahnen hoch. Die vielen Frauen mittleren Alters, die sich auf der Kund­gebung befinden, sehen mit ihren Halstüchern und dem Schmuck aus kunsthandwerklicher Fertigung nicht wie die Männer nach gealterten »Travellern« aus, sondern eher wie Besucherinnen von Kirchentagen oder Esoterikmessen.
Eine Überraschung gibt es noch: Eine Gruppe junger Männer gesellt sich zu der Kundgebung. Sie wird als die tibetische Fußballnationalmannschaft vorgestellt und verkauft Exemplare ihrer neuen Trikotkonfektion. Sie darf nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen, wie der Trainer in einer kurzen Ansprache beklagt. Eine Demonstrantin sieht in den Spielen in China dennoch eine große Möglichkeit: »Die Olympiade ist eine Chance für die Tibeter. Sie können die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Den meisten Menschen ist Tibet ja vollkommen gleichgültig.« Die zahlreichen Sympathiebekundungen hupender und winkender Autofahrer müssen ihr beim Aufsagen der Mantras und Parolen entgangen sein. Der Einsatz für Tibet ist für die Frau jedenfalls bitter nötig: »Wir waren schon mehrmals dort. In Lhasa zum Beispiel gibt es kaum noch alte Bausubstanz. Die Kinder lernen kein Tibetisch in der Schule. Die kulturelle Identität ist bedroht.«
Ihre Verbundenheit mit Tibet hat noch triftigere Gründe: »Ich sympathisiere mit dem Buddhismus. Da steht wie für mich selbst der Mensch im Mittelpunkt. Und der Tibeter ist der friedlichste Mensch, den ich mir vorstellen kann.« Eine andere Demons­trantin begründet ihre Anwesenheit auf der Kundgebung so: »Ich kann etwas mit dem Tibetischen an sich anfangen, mit der Kultur, mit dem Volk.«

Zu ihrem Bedauern hat sie keine Zeit, einem der Auftritte des Dalai Lama in Deutschland beizuwoh­nen. Auf Einladung der Tibet-Initiative Deutschland e.V. (TID) weilt der Mönch vom 16. bis zum 20. Mai im Land, um Vorträge zu halten und sich mit Politikern zu treffen. Nach eigenen Angaben ist die TID, die ihren Sitz in Berlin hat, der größte Tibet-Verein in Deutschland. Er hat etwa 5 000 Mitglieder in ungefähr 50 Ortsgruppen.
Menschen für Tibet und »seine gefährdete Natur und seine bedrohte Kultur zu sensibilisieren«, hat sich die Initiative zur Aufgabe gemacht. Die Frage »Warum setzen wir uns für Tibet ein« wird auf der Homepage der TID beantwortet: »Eine über Jahrhunderte eigenständige Entwicklung hat in Tibet eine auf der Welt in Schrift, Sprache und Religion einzigartige Kultur hervorgebracht, die als kulturelles Erbe der Menschheit erhalten werden muss.« Da die Tibeter also keine atheistischen Analphabeten sind und sich deshalb das deutsche Mitgefühl wirklich verdient haben, fordert der Verein »Frieden, Freiheit und Menschenrechte – all das, was Tibet durch die chinesische Besetzung von 1950 verloren hat«. Dabei entspricht das historische Wolkenkuckucksheim am Himalaya, das in der Phantasie der deutschen Tibet-Freunde herumgeistert, nicht unbedingt den tatsächlichen Zuständen unter der Herrschaft der Mönche vor 1950.
Weiter heißt es: »Die Massenansiedlung von Chinesen in Tibet stellt heute die größte Bedrohung für das Überleben des tibetischen Volkes dar. Die Fortführung dieser unmenschlichen Politik wird die Tibeter in naher Zukunft zu einer unbedeutenden Minderheit im eigenen Land machen und zum vollkommenen Verlust der Identität und Kultur der jetzt noch lebenden sechs Millionen Tibeter führen.« Oder ist es vielleicht sogar schon zu spät? An einer anderen Stelle zitiert die TID die NGO »Internationale Juristenkommission«. Diese Organisation bezichtigt China, sich »des bösartigsten Verbrechens, dessen eine Nation angeklagt werden kann, nämlich der Vernichtung eines ganzen Volkes«, schuldig gemacht zu haben.

Zwar haben die Vorträge, die der Dalai Lama in Deutschland halten wird, nicht ausdrücklich Tibet zum Thema, sondern die »Menschenrechte« in allerlei Variationen wie z.B. »Menschenrechte und Globalisierung«, »Frieden und Menschenrechte« oder »Menschenrechte als Verpflichtung«. Doch sicher wird er einige Worte zum »Menschenrecht« der Tibeter finden, sich den Himalaya nicht mit zugezogenen Chinesen teilen zu müssen. Die Propaganda gegen die Ansiedlung von Chinesen, die gerade mal sechs Prozent der Bevölkerung in Tibet ausmachen, betreibt der Dalai Lama schon seit längerem. Nur klingt sein Gerede vom drohenden »kulturellen Genozid« gewählter als die schlichte Hetze gegen »Überfremdung«.
Sprechen wird der Mann in Städten, die die TID keineswegs willkürlich ausgesucht hat. »Nürnberg ist ein Ort, der das schwere Erbe des Nationalsozialismus zu tragen hatte, nun aber die ›Stadt der Menschenrechte‹ ist. Nürnberg hat die Bewältigung der Geschichte beispielhaft betrieben«, sagt Boris Eichler, der für die Öffentlichkeitsarbeit der TID zuständig ist. Nach der Stadt, in der das Menschenrecht auf Lebkuchen, Bratwurst und schlechten Fußball verwirklicht ist wie sonst nirgends und in mustergültiger »Bewältigung der Geschichte« das Reichsparteitagsgelände in ein Festgelände mit Großparkplatz verwandelt wurde, besucht der Mönch das oberfränkische Nest Bamberg. »Die tibetische Kultur sollte in unseren Augen wie Bamberg zum Weltkulturerbe gehören«, sagt Eichler. 5 000 Zuhörer werden in Bamberg erwartet, 7 000 in Nürnberg, 2 500 in Gladbach und 3 500 in Bochum.
In Bochum trifft sich der Dalai Lama zudem mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU), dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) und dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU). Außerdem hat er die Einladung von Rupert Polenz (CDU) angenommen, mit Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses in Berlin zu sprechen. Einen Empfang im Kanzleramt wie im vergangenen Jahr wird es nicht geben. Angela Merkel (CDU) befindet sich in Lateinamerika. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat ein Treffen abgelehnt. Volker Beck (Grüne) empörte sich: »Statt vor China in die Knie zu gehen, sollte er Rückgrat zeigen und den Dalai Lama in Berlin empfangen.«

»Seine Heiligkeit« wird verschmerzen können, dass er Steinmeier nicht sieht. Schließlich trifft er einen alten Freund. Roland Koch hat nach eigener Aussage »eine sehr vertrauensvolle Beziehung zum Dalai Lama«. Wer derzeit die Homepage der hessischen Staatskanzlei anklickt, findet an oberster Stelle nicht etwa neue Einlassungen Kochs zum »Warnschussarrest«. Der Ministerpräsident äußert sich zur Lage in Tibet. In Hessen war der Dalai Lama zuletzt 2005: Er feierte in Wiesbaden seinen 70. Geburtstag und erhielt den Hessischen Friedenspreis.
Mit Lob hielt sich der Laudator Koch damals nicht zurück: Vorbildlich sei die »religiöse Führerschaft« des Mönchs. In der Tat kann der deutsche Landespolitiker nur davon träumen, das auto­ritäre Bedürfnis seiner Klientel so zu befriedigen wie der Dalai Lama das der seinen. »Sie versuchen nicht, die Struktur des Landes, in dem sie leben, zu unterminieren«, hob Koch hervor, als wünschte er, alle Migranten in Hessen würden durch Tibeter ersetzt. Deren Sache ist auch Kochs Herzensangelegenheit: »Es ist eine existenzielle Bedingung eines jeden Volkes, seine Lieder, seine Traditionen in Freude zu leben.« Der Ministerpräsident wusste auch 2005 schon um die Bedrohung für die Tibeter: »In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung so viele chinesische Bürger in die tibetische Region umziehen lassen, dass die Tibeter heute in ihrer angestammten Heimat eine nationale Minderheit sind.« Dem Tibeter geht es mit den Chinesen also so wie dem Hessen mit den Türken, Jugoslawen, Arabern etc. Da hilft nur die Meditation oder eine Doppelpass-Kampagne. Oder man macht es wie ein Teil der tibetischen Aufständischen in Lhasa im März und steckt die Geschäfte der verhassten Nachbarn in Brand.

Zuspruch ist dem Dalai Lama bei seinem Besuch also gewiss. Vielleicht tröstet er ihn ja darüber hinweg, dass dieses Mal keine Zeit für einen Besuch am Grab Heinrich Harrers in Kärnten bleibt. Zuletzt hat der buddhistische Wanderprediger 2006 der letzten Ruhestätte des bergsteigenden SA-, SS- und NSDAP-Mitglieds die Ehre erwiesen. Geehrt wird der Freund und Lehrer des Dalai Lama aber dennoch in kleinerem Maß: Die TID empfiehlt auf der Homepage zum Besuch des Tibeters die Bücher Harrers zur Einstimmung.