»Linksruck« durch »Die Linke«?

Die rosarote Flut

»Lafontaines Linke« treibe die anderen Parteien vor sich her, erklären die Medien einhellig. Von einem »Linksruck« ist die Rede. Tatsächlich hat sich die Partei eta­bliert. Wäre sie links, wäre das wohl kaum geschehen.

Was entdecken Politiker sowie journalistische und wissenschaftliche Beobachter einer Gesellschaft, die Regierungen wählt, welche die Rente mit 67 einführen und Auslandseinsätze der Bundeswehr legitimieren? Regierungen, die mit der Agenda 2010 allerlei Schikanen ersinnen, mit denen Dauerarbeitslose genötigt werden, als tragikomische Ein-Euro-Jobber lästiges Federvieh vom Chiemsee zu verscheuchen? Regierungen, die mittels Hartz IV selbst die Spargroschen rausgeschmissener Langzeitmalocher enteignen und mit der Riester-Rente Anlagebetrug begehen? Regierungen, die städtisches Eigentum verscherbeln und den öffentlichen Raum überwachen, als gelte es, eine Horde Krimineller zu kontrollieren? Sie entdecken einen »Linksruck«.
Kein anderer deutscher Politiker symbolisiert dabei den Linksruckmythos so wie Oskar Lafontaine, der nach der Selbstdemontage der Sozialdemokratie auf Grundlage der Konkursmasse ein paar fragile Wahlerfolge im Westen erzielt hat. Allein knappe fünf Prozent in Hessen inspirieren zu langen Besinnungsaufsätzen über das künftige Fünf-Parteien-System und zu ungezählten Kommentaren über den zum »heimlichen Kanzler« mutierten ehemaligen Finanzminister. »Verkommt Deutschland zur Lafontaine-Repu­blik?« fragt Spiegel-On­line.

Ob im Falle von Erwin Hubers Vorschlägen für mehr »Steuergerechtigkeit« oder den von Kurt Beck angestoßenen sozialdemokratischen Programmdiskussionen – Lafontaine gilt als geheimes Mastermind der aktuellen politischen Vorstöße von der CSU bis zur SPD, als roter Rasputin im Berliner Reichstag, der nicht nur nach Meinung des Stern-Kolumnisten Hans-Ulrich Jörges die Große Koalition der Volksbeglücker vor sich her treibt. Unhinterfragt wird die Virulenz sozialpolitischer Rhetorik mit der realen Politik verwechselt, werden alt-bundesrepublikanische Mentalitäten wie der verbliebene Glaube an die Sozialpartnerschaftsideologie zum manifesten »Linksruck« umgedeutet. Wem noch nicht eingeleuchtet werden konnte, dass man von knapp vier Euro täglich fürstlich speisen kann, findet im ehemaligen SPD-Vorsitzenden einen klasseninstinktsicheren Fürsprecher.
Dabei repräsentiert Lafontaines »Linke« zunächst kaum mehr als das traditionelle bundesdeutsche Sicherheitsversprechen, an dem auch in den neuen Bundesländern Maß genommen wird. Diese Einsicht hatte Lafontaine seinen Anti­poden stets voraus: Die sozialstaatliche Zähmung kapitalistischer Risken, nicht die norma­tive Westbindung oder der Verfassungspatriotismus war der Kitt der Bundesrepublik. Und auch wenn das Niveau der mit Zitaten von Marx, Rous­seau, Jaurès oder Gramsci angereicherten »Kapitalismuskritik« von Lafontaine (Neoliberalismus! Ackermann!) nicht selten derart schlicht ist, dass man den Drang verspürt, ein Girokonto bei der Deutschen Bank zu eröffnen, lieben ihn seine Parteigänger. Die taktisch Klügeren unter den politischen Kontrahenten Lafontaines hatten nach dem Reformwahlkampf 2005 rasch erkannt, dass effektiver Sozialabbau im korporatistisch geprägten Deutschland nicht als brutaler Neo-Thatcherismus vollzogen werden kann. Sie haben die dominante Rhetorik der Zumutungen massenkompatibel umformuliert und das Tempo bei der wirtschaftsliberalen Zurichtung des öffentlichen Lebens reduziert.

Doch für die Agenda-Hardliner in Politik und Publizistik bleibt Lafontaine gerade wegen seiner Agitation für jene Rentner, Arbeitslose und Lohnabhängigen, die trotz all der mäßigenden Appelle zur Einsicht in die Sachzwangnotwendigkeit schlicht das nötige Geld zum Durchkommen verlangen, ein Anführer der modernen »gefährlichen Klassen«. D.h. jener überflüssig gemachten Klassen, deren pure Existenzbedürfnisse als nicht finanzierbar gelten. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog denkt deshalb über ein die kleinen Parteien paralysierendes Mehrheitswahlrecht nach und warnt angesichts einer minimalen Bezugserhöhung vor einer »Rentner-Demokratie«. Das Portemonnaie des Pöbels darf nach diesem Standpunkt kein Maßstab für politische Entscheidungen sein.
Überlegungen von konservativen Klassenpolitikern wie Herzog richten sich generell gegen die »Unproduktiven«, die vor allem in den westlichen Bundesländern mit ihrem Votum für die »neue Linke« mehrheitlich nicht die Systemfrage stellen, sondern dokumentieren, dass ihnen das bundesrepublikanische Versprechen vom »Wohlstand für alle« nicht gründlich genug ausgetrieben werden konnte. Die vom Verfassungsschutz überwachten Linken sind durch die parlamentarische Integration weiter Teile des abgehängten Prekariats und seiner Bündnispartner freilich keine radikale Opposition, sondern die Garanten bundesdeutscher Stabilität. »Ich bin ein verkannter, braver Mann«, meinte Lafontaine unlängst in der taz mit Blick auf sein Image und die verzerrte öffentliche Wahrnehmung seiner »Linken«. Ironisch war das wohl nicht gemeint.