Einblick in die Szene der türkischen Fußballfans

Engagiertes Sitzewerfen

Vom islamischen Neureichen bis zum demonstrationserprobten Linken findet in der Türkei jeder Fan den passenden Istanbuler Fußballverein. Ein Einblick in die Szene

Spätestens seit dem WM-Qualifika­tionsspiel gegen die Schweiz vor zwei Jahren, als übermotivierte türkische Spieler vor den Augen der Weltöffent­lichkeit auf ihre Kontrahenten einprügelten, genießt der türkische Fuß­ball einen äußerst schlechten Ruf. Für die englische Boulevardpresse waren türkische Stadien schon vorher »die Hölle«, seit im Jahr 2000 zwei Hooligans des englischen Clubs Leeds United in Istanbul den Tod fanden, nachdem sie sich öffentlich mit der türkischen Fahne den Hintern abgewischt hatten. Türkische Fans gelten deshalb in Europa als extrem fanatisch, nationalistisch und gefähr­lich.
In der Türkei versteht man diese Vorhaltungen nicht, gilt es doch als selbstverständlich, wichtige Angelegenheiten auch engagiert zu betreiben. Bei allen Istanbuler Derbys können die Spie­ler der Auswärtsmannschaft nur durch einen schützenden Tunnel aus Polizeischilden vom Ausgang des Umkleidetraktes bis zum Spielfeld gelangen. Bei Einwürfen und Ecken hagelt es dann meist Wasserbecher, die man im Stadion kaufen kann, die Sitzschalen werden nach Niederlagen gern abmontiert und aufs Spielfeld ge­worfen. Besonders gefährlich ist ein Stadionbesuch aber dennoch nicht, weil nur sehr wenige Fans der Gastmannschaft ins Stadion gelassen werden, um einen möglichst großen Vorteil aus dem Heimrecht ziehen zu können.
Heikler kann die Situation in den Kneipen werden. Im Istanbuler Vergnügungsviertel Beyo­glu bauen bei wichtigen Spielen fast alle Gaststätten ihre oberen Stockwerke zu Kinosälen um. Das ist bei Länder- und Europapokalspielen kein Problem, bei Derbys sitzen dann allerdings die verfeindeten Fangruppen im selben Raum.
Beim Pokalspiel zwischen Galatasaray und Fenerbahçe Ende Februar ließen viele Wirte die verfeindeten Fangruppen nur nacheinander auf die Straße, weil die Situation zu eskalieren drohte. Wie zuvor bereits auf dem Platz: In der Partie verteilte der Schiedsrichter insgesamt zwölf gelbe und vier rote Karten.
Obwohl es bisweilen so wirkt, spielen natürlich auch in der Türkei nicht mehr die Kumpels aus dem Stadtteil unten auf dem Rasen. Die gro­ßen Istanbuler Vereine können schließlich in der Champions League mithalten, entsprechend viel Geld ist im Umlauf. Der frisch gekürte türkische Meister Galatasaray, der in der vergangenen Saison nur im Uefa-Cup spielte, konnte dem Champions-League-Teilnehmer Schalke 04 mit Lincoln sogar den Spielmacher wegkaufen. Vorigen Sommer vor Saisonbeginn druckten die türkischen Zeitungen die wüstesten Spekulationen darüber, welche Weltstars denn nun alle nach Istanbul kämen – als die Verpflich­tung von Kevin Kuranyi durch Fenerbahçe in der Türkei schon als sicher galt, wusste der Betroffene jedoch nichts davon. Tatsächlich bequemen sich bisher nur Spieler aus der international zweiten Garde oder gealterte Stars wie Roberto Carlos in die türkische Liga und werden dann wie Popstars gefeiert. Der Brasi­lianer Marco Aurelio fühlte sich gleich so heimisch, dass er seinen Vornamen in »Mehmet« änderte, die türkische Staatsbürgerschaft annahm und mittlerweile in der Nationalmannschaft spielt.
Der Grund für die etwas größenwahnsinnig anmutenden Spekulationen über geplante Transfers liegt in der Struktur der türkischen Sportberichterstattung. Die ist von den Anhängern der einzelnen Vereine als weiteres Kampfterrain zur Unterstützung ihrer Clubs erkannt und beschlagnahmt worden. In allen großen Zeitungen gibt es drei oder vier in den jewei­ligen Vereinsfarben gehaltene Sportseiten, die eher den Charakter von Fanzines haben – nicht nur von der Aufmachung her, sondern vor allem, was die entschiedene Parteilichkeit der Berichterstattung betrifft. Einen Sportteil, der sich zumindest einen objektiven Anstrich gibt, gibt es in der Türkei nicht.
Die türkische Meisterschaft ist eigentlich nicht viel mehr als eine Istanbuler Stadtmeisterschaft, bisher schafften überhaupt nur vier Mannschaf­ten den Titelgewinn. Rekordmeister sind Galatasaray und Fenerbahçe mit je 17 Titeln, gefolgt von Besiktas mit zwölf. Die einzige Mannschaft aus der anatolischen Provinz, die jemals die geschlossene Gesellschaft störte, ist Trabzonspor, und deren Meisterschaft ist auch schon über 20 Jahre her. Das Leistungsgefälle in der höchsten Spielklasse, der Süperlig, ist entsprechend. Dass die großen Favoriten trotzdem immer mal wieder gegen einen Underdog den Kürzeren ziehen, liegt an einer hervorstechenden Eigenschaft türkischer Mannschaften, nämlich der völligen Unterschätzung vermeintlich schwäche­rer Gegner.
Den Erfolgen entsprechend sind in etwa auch die Fangemeinden verteilt. Nur die Istanbuler Mannschaften und Trabzonspor haben über­regional Fans, wobei viele Anhänger von Provinzclubs außer ihrem Heimatverein noch einen aus Istanbul unterstützen.
Galatasaray, der Verein des gleichnamigen Elitegymnasiums in Beyoglu, genießt auch heute noch einen elitären Ruf. Das bedeutet aber nicht, dass sich seine Fans auch so benehmen, wie es sich für ordentliche Schnösel gehört. Am Anfang der Saison musste der Club seine ersten fünf Heimspiele ohne Zuschauer austragen, weil diese beim vorherigen Derby gegen Fenerbahçe ständig Gegenstände auf die gegnerischen Spieler geworfen und sich nach dem Spiel mit der Polizei geprügelt hatten. Um für derartige Situationen gewappnet zu sein, tragen die ultraslan, der harte Kern der Galatasaray-Fans, als einheitliche Fankleidung rot-gelbe Kapuzenshirts, mit denen man sich notfalls vermummen kann.
Die meisten Anhänger in der Türkei hat Fener­bahçe. Der Verein, der auf der asiatischen Seite Istanbuls in Kadiköy seine Spiele austrägt, war ur­sprünglich ein Arbeiterverein, gilt heute jedoch auch als die Mannschaft der eher islamisch-konservativen Neureichen und ist der reichste Club des Landes.
Die Fußballfans aller türkischen Vereine unterstützen ihre Mannschaft bedingungslos. Die eigenen Spieler auszupfeifen, käme ihnen nicht in den Sinn. Die Çarsı, wie die Anhänger von Be­siktas genannt werden, gelten hierbei als die entschiedensten. Sie sind außerdem die politi­schsten Fans, weshalb man Çarsı mit Anarcho-A schreibt. Besiktas, ebenfalls ein alter Arbeiterverein, trägt seine Heimspiele ganz in der Nähe des gleichnamigen Istanbuler Stadtteils, direkt am Bosporus im Inönü-Stadion aus. Hier sammeln sich die Çarsı schon Stunden vor Spielbeginn, um sich warmzusingen. Während des Spiels singt dann das ganze Stadion, und wenn der Gegner den Ball hat, wird in einer ohrenbetäubenden Lautstärke gepfiffen. Letztgenanntes gilt allerdings nur für Mannschaften, die ernst genommen werden. Beim Spiel gegen Denizlispor brachen die Gesänge noch nicht einmal ab, als in den ersten fünf Minuten zwei Tore gegen Besiktas fielen.
Im Stadion hängen zu jedem Spiel andere politische Transparente: Mal erinnern sie an den Jahrestag des ersten Atombombenabwurfs auf Hiroshima, mal wird ein umweltschädliches Stau­dammprojekt kritisiert. Voriges Jahr haben die Çarsı sogar eine eigene 1. Mai-Demonstration organisiert. Ihr Motto lautet denn auch: »Çarsı her seye karsı« (Besiktas-Fans gegen alles).