Was ist neu an der »neuen Linken«?

Mindestlohn als Utopie

Auf dem »1. Parteitag der Linken« in Cottbus an diesem Wochenende liegt ein Leitantrag vor, in dem sich die »neue Linke« zu definieren versucht. Aber was ist neu an dieser Partei?

»Eine starke Linke für eine andere, bessere Po­li­tik«, so ist der Leitantrag des Linkspartei-Vor­stan­des für deren ersten »richtigen« Parteitag überschrieben. Wer will, kann hier schon aufhören, drückt sich doch in diesem Satz die Abhängigkeit und Unterordnung unter die Prämissen des bürgerlichen Parlamentarismus aus: Nichts soll sich ändern (da polizeilich verboten), aber vieles soll wieder besser werden. Und dafür braucht es eine »starke Linke«. Wer sich irgendwem als »starker Partner« oder als »starkes Gegenüber« anbietet, der will von vornherein mitmachen, der hat die Spielregeln akzeptiert und will sie nur noch zu seinen Gunsten auslegen. »Die Linke« nimmt an Wahlen teil, sitzt in Parlamenten und arbeitet in deren Ausschüssen mit, da ist das Part­nerschaftliche naturgemäß intendiert.

So trostlos das Manifest des Parteivorstandes beginnt, so dürftig ist der Ertrag der Kritik. Denn dass die Partei eine zweite sozialdemokratische ist, wird bis in die Führungsetage hinein kaum geleugnet. Auch die sonst so feindliche Presse bestätigt dies: Längst ist nicht mehr »die Partei« das Problem, sondern einzelne Figuren oder Strö­mungen. Dass der nächste thüringische Minister­präsident mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Bodo Ramelow heißen wird, haben alle irgend­wie schon geschluckt.
Wer sich über das Antragsbürokratendeutsch lustig machen will (» … Auseinandersetzungen um die Hegemonie in der Betrachtungsweise … «), die wachsweichen »Kurswechsel«-Formulierungen, den Mitbestimmungs- und Parlamentarismuskult und den ideologischen Blick, der nur noch »die überwältigende Mehrheit der Bürgerin­nen und Bürger« sowie ein paar »Reiche und Wohlhabende« kennt, aber keine Klassen mehr: Nur zu! Nichts einfacher als das! Aber nicht das »dass«, sondern das »wie« ist inter­essant. An der Art und Weise, wie die »Linke« sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, lässt sich ablesen – nein, nicht, ob es vielleicht doch versteckte revolutionäre Potenziale in ihr gibt, sondern im Gegenteil: Es lässt sich etwas über die politische Integrationskraft des bürgerlichen Staats erfahren.
Dazu hilft auch ein Blick zurück – auf die Grün­dung der Grünen. Heute weiß jeder, die Grünen selbst, die bürgerlichen Skeptiker und die linken Kritiker, dass alles, was die Grünen einst wollten und forderten, mit dem Geschäftsgang von Staat, Nation und Wirtschaft vereinbar ist, und dem bisschen, das unvereinbar blieb, die Ideologie der »Gewaltfreiheit«, dem ist man einfach entwachsen.

Aber die Grünen forderten damals etwas von der bürgerlichen Gesellschaft, das neu war: den »ökologischen Umbau«; die Akzeptanz und Förderung »alternativer« Lebensentwürfe; Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte. Die Grünen überschritten nicht den Horizont der bürger­lichen Gesellschaft, sie malten ihn in besonders schönen Farben aus. Die Grünen waren durch und durch offensiv und bestätigten darin, subjektiv ­sicher sehr unfreiwillig, die Gestaltungskraft dieser Gesellschaft: Denn dass ein offen schwuler CDU-Patrizier mal nichts lieber tun will, als mit den »Alternativen« zu koalieren, das hätte vor 20 Jahren selbst der abgezockteste Realo für eine fiebrige Wahnvorstellung gehalten.
Die Grünen waren offensiv – und die Linkspartei, nimmt man den Leitantrag als tauglichen Seismographen, ist defensiv: Organisatorisch versteht sie sich als Abfallprodukt von Rot-Grün, sie buhlt geradezu um Anerkennung von Seiten der Gewerkschaften. Programmatisch formuliert sie im Antrag Forderungen, die begrenzend wirken sollen: Abschaffung der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre; Einführung eines Mindestlohns von acht Euro (perspektivisch zehn Euro); eine vorsichtige Abkehr von Hartz IV (Sie schreiben tatsächlich: »Wir wollen weg von Hartz IV.« Das ist etwas anderes als: »Wir wollen Hartz IV abschaffen.«); mehr öffentliche Investitionen; Chancengleichheit in der Bildung; weniger Privatisierungen; Verwirklichung der deutschen Einheit (sic!). Und so weiter. Das hat keine Gestaltungskraft, sondern will korrigieren, ein­hegen, zurechtrücken. Dafür akzeptieren sie fast alles, was der Nationalismus an Theoriephrasen bereithält: Dass es eine »soziale Balance« (empfindlich!) gibt und unsere Gesellschaft eine »moralische Grundlage« hat (geht schnell mal verloren!). Zur Erinnerung: Die Grünen wollten wirklich eine andere Gesellschaft, ganz gleich, wie un­sinnig ihr Ansinnen war; die »Linke« nimmt im Vergleich zum praktizierten Kreativitätsfetisch der alten Grünen bloß die Rolle des Rahmenbauers und des Restaurateurs ein. Die Linkspartei stellt keine einzige Forderung auf, die nicht irgendein SPD-Stratege auch schon mal in seinem Hirn gewälzt hat. Deshalb ist das Frohlocken des Vorstandes – »Die anderen Parteien beginnen zu reagieren, die Überschriften der Programme ändern sich, der Tonfall wird sozialer (…) All das zeigt: Links wirkt! Veränderung ist möglich!« – durchaus infantil: Die »Großen« tun vielleicht irgendwann das, was die »Kleinen« wollen, wenn die nur lange genug nörgeln.

Langsam kommt man dem eigentlichen Problem, das in diesem Leitantrag steckt, auf die Spur: Wie ist es um die Integrationskraft eines politischen Systems bestellt, wenn die einzige und ihrem Verständnis nach radikale Opposition sich peinlich genau an die Vorgaben des Systems hält? Diese Kraft ist einerseits sehr groß, bezieht sich andererseits aber auf einen schrumpfenden Teil der deutschen Gesellschaft.
Die Grünen konnten noch lauthals den »(System-) Ausstieg« proklamieren, das System hielt sie gut aus, und binnen 15 Jahren waren sie ordentlich integriert. Heute will die Linkspartei – umgekehrt – die anderen Parteien und das Establishment wieder in eine Sozialordnung zurückholen, in der die »Linke« streng über die »soziale Balance« wacht und moralische Integrität einfordert. Man kann das als Reaktion auf eine Gesellschaft verstehen, in der immer mehr Menschen erleben, dass für sie nie eine »soziale ­Balance« vorgesehen war, und in der sich die mo­ralische Grundlage im Fahnenschwenken bei sportlichen Großereignissen ausdrückt. Im Klartext: »Die Linke« ist der vorläufig letzte Versuch des ge­schäfts­führenden Ausschusses der bürgerlichen Gesellschaft, positive Integration und zivilgesellschaftliche Identifikation mit dem Staat wiederherzustellen und abzusichern. Das zeigt einerseits, wie angepasst sich als marxistisch oder zumindest post-marxistisch verstehende Parteiaktivisten tatsächlich sind, und andererseits, wie »abgehängt« und ökonomisch degradiert ihre Klien­tel ist: Man will ihnen den Mindestlohn als Utopie verkaufen, und das ist entweder zynisch, weil die Parteistrategen auf die Anspruchslosigkeit der Lohnabhängigen spekulieren, oder verzweifelt, weil man als Linker keinen größeren Gestaltungsspielraum mehr zu entdecken vermag.
Es gibt im Leitantrag Passagen, die realitätsnah sind: Wenn davon – sinngemäß – die Rede ist, dass Sozialleistungen kein Zuckerschlecken sind, sondern die Härten des Kapitalismus mildern. Aber kein Wort davon, dass Sozialpolitik seit jeher Kontrollmittel ist; dass der moderne Staat über seine Kassen und Versicherungen das Proletariat zu sortieren, zu spalten, nationalistisch anzuleiten verstand. Das Fehlen jeglicher Spur einer linken Sozialstaatskritik kann man nur so interpretieren, dass das Linksestablishment auf die Handhabung dieser Kontrollinstrumente selber nicht verzichten will. Etwa wenn uns Bodo Ramelow demnächst als Ministerpräsident begrüßt.