Die italienische Mittelschicht und ihre Abstiegsängste

Die Mittelschicht macht mit

Ein Ministerpräsident, der zur Steuer­hin­terziehung rät, und ein Finanzminister, der ausländische Mächte für die wirt­schaft­liche Misere verantwortlich macht: Vorbilder für die italienische ­Mittelschicht.

Es kommt selten vor, dass der Wahlsieg eines rechtspopulistischen Politikers bei der radikalen Linken für Begeisterung sorgt. Doch ein Jahr nach dem ersten Erfolg von Silvio Berlusconi im Mai 2001 erklärte der italienische Theoretiker Antonio Negri in Le Monde Diplomatique, der Sieg der Rechten könne paradoxerweise eine neue gesellschaftliche Mobilisierung provozieren. Die »Multitude von Genua«, die beim G8-Gipfel 2001 ihren großen Auftritt hatte, repräsentiere die »ers­te vollständige Bandbreite jener in prekären Arbeitsverhältnissen Beschäftigten«, die nach neuen Ausdrucksformen suchten.

Tatsächlich hat in den folgenden Jahren das »Labor Italien« (Negri) seinen Betrieb wieder aufgenommen – allerdings in einer anderen Weise, als es sich die radikale Linke wünschte.
Negris Hoffnung basierte auf einer neuen hete­rogenen Bewegung, die er als Nachfolger der traditionellen Arbeiterbewegung und der außerparlamentarischen Gruppen verstand. Nirgendwo sonst in Europa hatte es eine solche starke militante Bewegung wie in Italien gegeben, die auch in den Fabriken zahlreiche Anhänger für sich gewinnen konnte. Die staatliche Repression gegen diese Opposition war zwar enorm, doch ihr eigentlicher Niedergang vollzog sich eher unspek­takulär und leise.
Dieser Niedergang steht im Zusammenhang mit der Entwicklung der Arbeitsverhältnisse. Vor allem in Norditalien entstand in den neunziger Jah­ren ein Netz von Kleinproduzenten und neuen Selbständigen. Heute arbeiten schätzungsweise 3,5 Millionen Italiener in zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen, dem italienischen So­ziologen Sergio Bologna zufolge machen die neuen Selbständigen bereits ein Drittel aller Beschäftigten aus.
Gleichzeitig sind die Gewerkschaften vor große Probleme gestellt: Die neuen Arbeitsformen sind von hoher Mobilität und Flexibilität gekennzeich­net, aber auch von der zunehmend individualisier­ten Verhaltensweise der Beschäftigten. Während sich einerseits die soziale Situation verschlech­ter­te, zerfiel auf der anderen Seite die organisierte Gegenwehr. In den siebziger und achtziger Jahren forderten die sozialen Bewegungen einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum und mehr Selbstbestimmung. Heute kämpfen die meisten Beschäftigten gegen den sozialen Abstieg.
Insbesondere die italienische Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren deutlich ärmer geworden. Rund 13 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, das durchschnitt­liche Jahresnettoeinkommen liegt bei 12 634 Eu­ro. Hinsichtlich der Produktivität sieht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Italien mittlerweile auf dem letzten Platz der 30 größten Industriena­tio­nen.
Bologna warnte vor zwei Jahren vor der »Zerstörung der Mittelschichten«, da die Möglichkeiten, sich zu organisieren, dadurch schwinden würden. Die neuen Selbständigen kämen überhaupt nicht mehr dazu, gemeinsame Interessen, Ziele oder Anschauungen zu formulieren, ge­schweige denn praktisch zu erfahren. Die Bewegung der prekär Beschäftigten, von der Negri nach Genua träumte, zerfiel, bevor sie überhaupt entstanden war.

Die nachlassende gesellschaftliche Integration macht es Politikern wie dem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi einfach, Erfolge zu erzielen. Für viele, die den sozialen Abstieg fürchten, dient er als Vorbild. Seine Karriere zeigt, dass man auch in Zeiten wirtschaftlicher Krise und Entsolidarisierung aufsteigen kann – gerade weil er skrupellos seine eigenen Ziele verfolgt und sich nicht um die Gesellschaft schert. Nicht trotz, sondern wegen seiner »erwiesenen Unfähigkeit, das Land zu regieren«, so das britische Wirtschafts­magazin The Economist, wurde er gewählt. Skrupellos nutzt er die eigenen Vorteile aus und empfiehlt allen anderen, es ihm gleichzutun. So rief er öffentlich dazu auf, Steuern zu hinterziehen, falls man sie für unangemessen hoch halte.
Zugleich repräsentiert er aber auch den auto­ritären Staat, der mit harter Hand die nationalen Interessen zu schützen vorgibt. Wenn er verspricht, hart gegen Immigranten und andere sozial Deklassierte vorzugehen, bedient er damit die Ängste der Mehrheit vor dem Abstieg. Die Hetze gegen »das Fremde« schließt dabei auch die anonymen ausländischen Mächte mit ein, die nicht so einfach des Landes verwiesen werden können, aber gerade deswegen umso bedrohlicher erscheinen.

So kritisiert der neue Finanzminister Giulio Tremonti in seinem Buch »Angst und Hoffnung« den »Wahnsinn der Globalisierung«, die er als Werk »von Fanatikern« bezeichnet und für Inflation, Finanzkrise, Umweltkatastrophen und Kriege verantwortlich macht. Die »Marktherrschaft« bezeichnet er als »letzten ideologischen Wahnsinn des 20. Jahrhunderts« und fordert Strafzölle für asiatische Exporte und das Verbot fremder Staatsfonds auf den europäischen Finanzmärkten. Auch der neofaschistische Bürgermeister Gianni Alemanno in Rom pflegt ein globalisierungskritisches und ökologisches Image. Ähnlich wie der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy kokettiert die italienische Regierung mit wirtschaftlichem Protektionismus, wenn es um nationale Interessen geht.
In vieler Hinsicht ähnelt Berlusconi daher anderen europäischen Rechtspopulisten, wie zum Beispiel dem Milliardär Christoph Blocher seiner Schweizerischen Volkspartei. Auch in Osteuropa gibt es vergleichbare Phänomene – so will Gigi Becali, einer der reichsten Unternehmer Rumäniens und Besitzer des Fußballclubs Steaua Bukarest, mit seiner »Partei Neue Generation« bei den Präsidentschaftswahlen 2009 antreten. Sein politisches Motto »Im Dienste des Kreuzes und der Rumänenschaft« ist an die Parole der rumänischen Faschisten aus der Zwischenkriegszeit angelehnt.
Doch im Gegensatz zu den konventionellen Rechtspopulisten hat der italienische Salonfaschismus entscheidende Vorteile. Nicht zufällig knüpft er an die Rhetorik der Linken an – gerade im Norden trugen die Stimmen der Arbeiter wesentlich zum Erfolg der sozialchauvinistischen Lega von Umberto Bossi bei. Gianfranco Fini, Vorsitzender der ehemals neofaschistischen Na­tionalen Allianz und neuer italienischer Parlamentspräsident, ist wiederum mit seinem seriösen Auftreten attraktiv für bürgerliche Wähler, die sonst vor dem brachialen Verhalten rechts­extremer Politiker zurückschrecken.
Die Koalition aus Berlusconi, Fini und Bossi ist mit ihren postdemokratischen Methoden populär – vor allem bei denjenigen, die fürchten, vielleicht bald zu den Verlierern zu gehören. Sie verkörpert einen Extremismus der Mittelschicht, die auf dem besten Wege ist, die politische Macht zu übernehmen.
Eine Entwicklung, die nicht unbekannt ist. So erklärte der italienische Historiker Luigi Salvatorelli bereits Anfang der zwanziger Jahre den Erfolg Benito Mussolinis damit, dass die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien sich zu einem großen Teil aus der vom Abstieg bedrohten bürgerlichen Mittelklasse rekrutierten. Ihr Anteil schien ihm so bedeutend, dass er den Faschismus als den »Klassenkampf des Mittelstands« bezeichnete. Eine These, die heute ak­tueller erscheint als die erst wenige Jahre alten Überlegungen von Antonio Negri.