Die mystifizierende Debatte über Globale Soziale Rechte

Würde für alle, alle für die Würde

In der Debatte um Globale Soziale Rechte wird meist der staatliche Souverän außer Acht gelassen, der dem Recht Geltung verschafft. Auch ansonsten ist sie seltsam.

Ein neues heißes Ding ist am Start: die »Globalen Sozialen Rechte (GSR) – Für ein Leben in Würde weltweit«. So werden sie angepriesen. Was das ist? Die Forderung nach GSR, so heißt es in dem Diskussionspapier von Thomas Seibert, »geht davon aus, dass jeder Mensch qua Existenz das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben auf der Grundlage der gleichen Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum hat«. Auch der DGB Berlin-Brandenburg hat sich das »Leben in Würde« auf seine Fahnen geschrieben, wenn nicht weltweit, so doch »von der Wiege bis zur Bahre«. Im Juni veranstaltet er unter dem Motto »Gegen die Armut und für ein Leben in Würde« eine Kundgebung in ­Berlin, um eine Regelsatzerhöhung bei Hartz IV auf, man höre und staune, 430 Euro zu fordern.

Aber nicht die deutschen Gewerkschaften sind des Autors wichtigste Quelle für sein ominöses »Leben in Würde«, sondern die Zapatisten; schließ­lich will er nicht nur Gewerkschafter und NGO, sondern auch die globalisierungskritische Bewegung für seine GSR erwärmen: »Mit dem Begriff der Würde verbinden sie (die Zapatisten), dass sich die Menschen im Prozess der Ausei­nandersetzung selber entwickeln müssen, und das auch und gerade in der praktischen Gestaltung des eigenen Lebens«: Wohin entwickeln, wozu, nach welchen Kriterien? Das bleibt unklar. Fragend schreiten wir voran: Hat sich nicht auch ein, sagen wir, Pinochet »im Prozess der Auseinandersetzung«, »auch und gerade in der praktischen Gestaltung des eigenen Lebens«, selber entwickeln müssen?
Doch auch die Schwammigkeit dieser Defini­tion der Würde kann nicht verdecken, dass die Forderung nach GSR bzw. nach einem »Globalen Recht auf Rechte« bzw. nach einem »Leben in Würde weltweit« einen großen Vorteil hat. Sie ist »praktisch längst schon wirksame Richtungsforderung: weil und soweit sie die Richtung benennt, in die sich zahllose soziale Bewegungen bereits aufgemacht haben«. Denn auch wenn sie es nicht wissen, »streiten Millionen Menschen noch heute um ihren Zugang zum Recht selbst, um ihr Recht auf Rechte«, insbesondere illegalisierte Migrantinnen und Migranten. Hier rächt es sich, dass der Autor das Recht regelmäßig ohne den staatlichen Souverän denkt, der ihm Gel­tung verschafft. Der »Zugang zum Recht« kann schnell zum erzwungenen Abgang aus dem jeweiligen Staatsgebiet werden, wenn es sich beim Recht etwa um das Ausländerrecht handelt. Das mag dann in einem gewissen Wider­spruch zu beispielsweise dem Menschenrecht auf Asyl stehen, aber schlauerweise hat es sich der Souverän vorbehalten, das Kleingedruckte dabei zu regeln.
Die GSR und das Leben in Würde müssen aber auch materialistisch geerdet werden. Deshalb gehöre »der Begriff der gleichen Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum« in das »Zentrum jeder Diskussion um die GSR«, ja die gleiche Teilhabe aller solle als Menschenrecht gefasst werden, damit sie unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Staatszugehörigkeit und auch Leistungsfähigkeit für alle verwirklicht werde. »Dafür steht in der Perspektive der einzelnen die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, die nicht zufällig seit den 1960er Jahren – wenn auch bisher nie leitend – in zahllosen Kämpfen verfochten wurde.« Nur hat man die Forderung bisher nirgends an ihrem umstürzlerischen Werk gesehen: Weder im Mai ’68 in Frankreich noch im Prager Frühling, weder beim Sturz Salazars in Portugal noch bei den Streiks in Polen 1980/81 oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 in Peking, noch nicht einmal beim Aufstand der Zapatisten 1995 spielte sie eine Rolle. Aber vielleicht zählen diese Aus­ein­andersetzungen, bei denen die Veränderung der gesamten Gesellschaft auf dem Spiel stand, ja auch nicht zu den »sozialen Kämpfen«.

Dennoch führt der Begriff der Teilhabe keineswegs ein abstraktes Dasein, unverwurzelt und in luftigen Dimensionen. Vielmehr »konkretisiert und sozialisiert sich der Begriff der Teilhabe in der Dimension der ›sozialen Infrastruktur‹«. Soziale Infrastruktur wiederum bedeute die »Mobilisierung und Bereitstellung institutioneller Ressourcen, die für die anerkannten sozialen Aktivitäten nötig sind und die von den einzelnen nicht selbst hergestellt werden können oder sollen«. Anerkannt von wem? Vom Staat oder vom BDI? Vom Nazi oder Islamisten von nebenan? Von der deutschen Leitkultur? Man erfährt es nicht.
Doch hoppla! »In hoch industrialisierten Ländern sind solche soziale Infrastrukturen bereits realisiert.« Da haben wir ja Glück gehabt mit unse­ren guten alten Institutionen! Und Blanqui und Durruti, Rosa Luxemburg und Erich Mühsam sind nicht umsonst gestorben … damit auch wirklich jede und jeder einen Platz in der sozialen Infrastruktur namens Jobcenter finden kann, um sein Grundeinkommen aka Hartz IV abzuholen. Weltweit natürlich.