Franco »Bifo« Berardi über den Semiokapitalismus

Generation Post-Alfa

Franco »Bifo« Berardi präsentierte in Mexiko-Stadt sein neues Buch »Generation Post-Alfa«. Es handelt von einer Generation, die ihre Sprache nur noch aus den Medien bezieht. Nils Brock hat sich mit ihm unterhalten

In einer Stadt Norditaliens vergewaltigte und tötete vor einigen Jahren eine Gruppe Jugendlicher ein junges Mädchen. Die Ermittler, die den Fall untersuchten, sag­ten, sie seien überrascht gewesen von der Unfähigkeit der Jugend­lichen, ihre eigenen Handlungen, ihre Gefühle und Motive in Worte zu fassen. Syntax auf Null. Einsilbigkeit. Onomatopoetische Laute.« Wenn der italienische Philosoph und Medienkritiker Franco Berar­di, genannt »Bifo«, seine Medien- und Kapitalismuskritik anschaulich zu machen sucht, wirkt das zunächst boulevardesk. Es ist jedoch die vielleicht drastischste Zuspitzung seiner These eines kommunikativen Kollapses in Zeiten des Semiokapitalismus.
Semiokapitalismus – ein Neologismus mehr. Doch so neu ist die Idee eines kapitalistischen Zeichenbeschleunigers nicht. Bereits vor einem knappen Jahrzehnt begann Bifo, eine der be­kann­testen Stimmen der italienischen 77er-Bewegung, erstmals öffentlich über das Chaoskonzept von Gilles Deleuze und Felix Guattari nachzudenken. »Chaos ist demnach, wenn die Welt sich für meinen Verstand zu schnell bewegt.« Im Kontext kapitalistischer Produktion, deren Wachs­tum mit einem ständig anschwellenden Informationsfluss einhergeht, werde das mensch­­liche Hirn doppelt überfordert. Zum einen gibt es die »Infoarbeiter«, die unter ausbeuterischen Bedingungen und stetem Zeitdruck immer größere Zeichenmengen gewinnbringend zusammensetzen müssen. Zum an­deren sind da die neuen Generationen von Medienkonsumenten, die kognitive Impulse zu­nehmend von technologischen Dispositiven und nicht von ihren Mitmenschen aufnehmen.
Die Folgen dieser »Informationsschwemme« seien gesellschaftliche Mutationen, die von der Theorie bislang nur unzureichend wahrgenommen würden. Der Erkenntnishorizont des Neoliberalismus verhindere eine umfassende Ka­pi­talismuskritik; und die Thesen Toni Negris zu »immaterieller Arbeit und Multituden sind zwar interessant, treffen aber nicht den Kern der Sache, die Auswirkungen der Technologie auf die Menschen über eine Betrachtung medialer Inhalte hinaus«, findet Bifo. Doch auch die Para­digmen der Mediensoziologie wie Informations- und Wissensgesellschaft scheinen Bifo in ihrer Blindheit für das Ökonomische kaum für eine radikale Gesellschaftsanalyse tauglich. Und Manuell Castells Terminus eines »informationellen Kapitalismus« schließlich nähert sich selten einer mikropolitischen Ebene, auf der Bedürfnisse, Affekte und Ängste der »Netzwerkgesellschaft« wahrnehmbar werden, an deren Betrach­tung Bifo so gelegen ist.
Um diese Lücken in der Theorie kümmert sich Bifo nun in einer Sammlung von Essays, in denen auch eigene Ideen weiterentwickelt werden. »Generation Post-Alfa. Pathologien und Ein­bildungen im Semiokapitalismus«, so müsste wohl eine Übersetzung des Buchtitels lauten. Das Buch ist bisher nur in Argentinien und Mexiko veröffentlicht worden und wird in Euro­pa lediglich vom spanischen Verlagsprojekt Traficantes de Sueños vertrieben. »Das Orginalmanuskript werde ich irgendwann ins Netz stellen, in Italien einen Verleger zu suchen, darauf habe ich im Moment keine Lust, die Be­dingungen sind nicht gegeben«, sagt Bifo. Weiter ausführen will er das nicht, lieber möchte er über seine Ideen streiten.
Zunächst wäre zu klären, warum Bifo für seine Beschäftigung mit der kapitalistischen »Info­sphäre« ausgerechnet den kanadischen Medien­theoretiker Marshall McLuhan ausgegraben hat und auf dessen These einer »postalfabetischen Generation« aus den sechziger Jahren zurückgegriffen hat. »Eins ist klar, McLuhan wird nicht direkt Antworten auf gegenwärtige Entwicklungen liefern können, aber seine bekannte These, das Medium sei die Botschaft, hat nach wie vor Gültigkeit«, sagt Bifo. Dabei geht es nicht darum, den Inhalt zu entwerten, sondern auch den Medienformaten angemessene Beachtung zu schenken. Freie Software, offene Quellcodes, Kompatibilität von Text- und Audio­dateien – es fehlt nicht an Beispielen.
McLuhan habe außerdem »die kritisch-huma­nistische Illusion zerstört, dass man die Kommunikationsmedien der rationellen und fortschreitenden Herrschaft der Demokratie, dem Recht und der Logik unterwerfen könne«, führt Bifo in seinem Buch aus. Denn, und hier spricht wieder McLuhan, auf alphabetische Medien mit dem ihnen eigenen sequenziellen, logisch-kritischen Denken folgten elektronische Technologien, die ein simultanes, mythisches Denken begünstigen. Und diese Entwicklung der Medien, so Bifo mit Blick auf die politischen »Exit-Optio­nen«, stürze sowohl die »Erben des Leninismus als auch der Sozialdemokratie« zunehmend ins Dilemma: entweder medial kompatibel und reformistisch dem simultanen Charakter der Medien zu folgen und sich dem »liberalen Dogma« zu »unterwerfen« oder aber eine widerständige Position einzunehmen, deren Diskurse kaum mehr kompatibel mit den gegenwärtigen Me­dien­formaten sind.
Bifo wehrt sich dagegen, wenn seine oder McLuhans Ideen als deterministisch kritisiert werden, denn Medienkonsumenten als passive Empfänger abzuwerten, liegt ihm fern. Die »post-­alfabetischen« Generationen seien nicht Opfer einer medialen Verdummung. Mögliche Verluste im kritisch-logischen Bereich würden durch neue kommunikative Fähigkeiten ausgeglichen. Wichtig sei es, diese »anthropologischen Verschiebungen festzuhalten und mit einer Kapita­lismusanalyse zu verbinden«. Und auf diese Weise, just wenn bei McLuhan das esoterische Moment durchschlägt, erdet Bifo seine Ideen wieder. 1977 revisited.
Während McLuhan den Zeitpunkt des Umbruchs von der alphabetischen zur »post-alfabetischen« Generation nicht datiert, macht Bifo diesen Übergang im Jahr 1977 fest, »dem Jahr, in dem die Zukunft ihr Ende fand«. Diese Datierung zeigt, dass Bifo die Veränderungen der »Infosphäre« klar als gesellschaftlich vermittelt betrachtet. Das Jahr 1977 erlebt er an der Uni­versität von Bologna als »Ausbruch und Ausbreitung einer Bewegung von Studenten und jungen Arbeitern, die sich auf intensive Weise in den Städten Bologna und Rom ausdrückt«.
Es ist das Jahr, in dem Radio Alice, ein freies Radioprojekt, das Bifo mitgegründet hat, seinen ersten Geburtstag feiert. Es ist auch das Jahr, in dem die Sex Pistols der Queen ihren Geburtstag versauen, in dem »in den Garagen des Silicon Valley Jungs wie Steve Wozniak und Steve Jobs, libertäre und psychedelische Hippies, eine benutzerfreundliche Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine schaffen« – und das Unternehmen Apple gründen, es ist das Jahr, in dem Wissenschaftler dem französischen Prä­sidenten Valéry Giscard d’Estaing einen Bericht mit dem Titel »Die Informationalisierung der Gesellschaft« schicken, das Jahr, in dem in Peking vier Ultramaoisten zu langen Haftstrafen verurteilt werden, der Direktor des KGB, Juri Andropow, dem »lebenden Leichnam« Leonid Breschnjew einen Brief schreibt und feststellt, dass der Sozialismus dem Untergang geweiht ist, wenn er nicht in der Lage ist, schnell seinen informationstechnischen Rückstand aufzuholen.
Aber es ist auch das Jahr, in dem der damalige »Maodadaist« Bifo die Anfänge der gewaltsamen staatlichen Repression und das Ende von Radio Alice miterleben muss. »1977 ist ein Berührungspunkt, oder besser gesagt, ein ›Zensur­punkt‹, ein Punkt, in dem sich zwei Epochen treffen.« Bifos Rückblick ist nicht nostalgisch, sondern zielt vielmehr darauf, die »mediale Explosion«, die kostengünstige, weite Verbreitung von Elektrotechnik, analogen Speicher­medien und natürlich Farbfernsehern, mit einer schleichenden Auflösung der bipolaren Weltbilder auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zusammenzubringen.
Gewiss kein bewusster und schon gar kein logisch-kritischer Prozess, denn die erste Generation Post-Alfa sitzt bereits vor den Fernsehschirmen, in Washington und Moskau. Es ist die­se erste »video-elektronische Generation«, die heute erwachsen ist, welche Bifo als neue, kom­mende Klasse des Semiokapitalismus bezeichnet – als »Kognitariat«, das in den gemeinsamen Zeichen der Popkultur der achtziger Jahre geschult ist und dem beinahe ein kleines Wunder gelungen wäre – die Verwandlung der Welt in einen dynamischen Markt risiko- und lebensfreudiger Start-up-Unternehmer, eine Welt, in der immer mobileres Kapital (capital recombinan­te) mit den neuen kognitiven Fähigkeiten der Post-Alfabeten verschmilzt – New Economy: Here we go!
Doch die Wachstumsphantasien wurden schon kurz nach Beginn des neuen Jahrtausends bitter enttäuscht – Rezession, die Dot-Com-Krise, Prekarisierung –, da half auch kein Prozac mehr. Die relative Autonomie des »Kognitariats« fand ihr Ende im Call-Center, eine neue Art des »Splat­terkapitalismus« verschob die Entwicklung innovativer Technologien wieder in den »militärisch-technologischen« Bereich, so Bifo. Ausnahmezustand und Krieg als neue Ersatzdroge, Effizienz und gnadenloser Wettbewerb als einzige Marktregulatoren. »Denn wer ist effizienter als derjenige, der in der Lage ist, seinen Konkurrenten auch physisch zu vernichten?«
Das ist die Gegenwart, in der fast alle »Ga­belun­gen« genannten Essays von Bifo ankommen, oft mit apokalyptischem Unterton (»Und auf dem Global-Imaginären begann der erste Krieg zwischen Menschen und Neo-Menschen«), manch­­mal mit Fragen (Wie kann man Räume kreativen Arbeitens in den Falten des prekarisier­ten Lebens finden?). Und eher selten mit einem Augenzwinkern. Nichts scheint ihm mehr zuwider als Kunstschaffende, »die nicht mehr nach Brüchen suchen, sondern in einem Balanceakt zwischen Ironie und Zynismus für einen Moment die eigene Exekution hinauszögern«. Der Kunstdozent Bifo muss es wissen. In Bologna lehrt er mittlerweile an zwei Kunsthochschulen. Gleichzeitig unterrichtet er aber auch an einer Mittelschule, arbeitet dort vor allem mit erwach­senen Migrantinnen. »Ja«, bestätigt er, »es ist auch meine Arbeit als Lehrender, die mir oft neue Anstöße für meine Überlegungen zu kapitalistischer Verwertung, Prekarisierung und Postalfabeten liefert.«
In seinen Vorlesungen sitzen bereits Angehörige der zweiten Generation von Post-Alfabeten, die generación conectiva, Jugendliche, die frühzeitig von einem audiovisuellen Informa­tionsfluss überfordert seien, nur noch auf Ritalin den täglichen Erfolgsdruck meistern – psycho­pathologische Wracks, die kein »Außen« mehr kennen, deren Zukunft darauf ausgerichtet ist, stets verfügbar zu sein; bereit, kognitive Fähigkeiten in intensiver Projektarbeit bis über die Schmerzgrenzen hinaus einzusetzen, schlechte Bezahlung und soziale Unsicherheit in Kauf zu nehmen. Biopolitisch von einem Informationsstrom betäubt, ohne die Fähigkeit, auf kritische Distanz zu ihrem gesellschaftlichen Status zu gehen oder körperlich-emotionale Nähe zu einem anderen Wesen zu entwickeln. »War-Porn«, Selbstmord und Amoklaufen als Ausdruck einer kollabierenden Gesellschaft.
»Ich habe versucht, mich mit McLuhan der Frage zu nähern, was für Effekte der massive Zeichenstrom, die technologische Allgegenwart erzeugt«, wehrt Bifo die Frage ab, was er angesichts seiner oft pessimistischen Schlussfolgerungen als gegenwärtige Aufgabe eines kritischen »Medienaktivismus« formulieren würde. Neben seiner Mitarbeit auf der Website »Rekom­binant« war Bifo seit 2002 auch in den Stadtteil­fernsehprojekten von Telestreet tätig. In den vergangenen vier Jahren ist Telestreet jedoch zu einem eher marginalen Phänomen geworden. »Youtube hat an diesem nachlassenden In­ter­esse einen großen Anteil gehabt, denn klar ist es attraktiver, der ganzen Welt meine Filme zu zeigen als ein paar hundert Leuten.« Das sagt er weniger bitter als interessiert. »Ich finde es wichtig, soziale Netzwerke wie Youtube, Facebook oder MySpace zu untersuchen, mit alter­nativer Medienarbeit zu konfrontieren, auch wenn ich diese Netzwerke ästhetisch in vieler Hinsicht schrecklich finde.«
Gleichzeitig sieht er jedoch als Haupthindernis einer freien und experimentellen Medienpraxis, die weniger an »Informieren«, sondern eher an »Spiel, Arbeit und Aneignung von Sprache« interessiert ist, die wachsende Schwierigkeit in einem zunehmend prekarisierten Alltag, in dem das ständig klingelnde Handy längst die Werksirene ersetzt hat, dauerhaftes und kon­tinuierliches Zusammenarbeiten immer schwie­riger wird. Ein Zurückweichen vor den medialen Zeichenmixern sei jedoch nur begrenzt mög­lich, und außerdem »ist es notwendig, die Welt mit den gleichen Antennen zu sehen, mit denen auch dauervernetzte und schnurlos verbundene Neo-Menschen wahrnehmen, denn das ist die prekäre Klasse, mit vernetztem Hirn, aber unharmonischer Verkablung, performativ, aber unglücklich«.
Der Ungewissheit im medialen Maschinenpark setzt Bifo am Ende die vage Hoffnung auf eine Bewegung der Post-Alfabeten entgegen, die in einem phänomenologischen Zeitverständ­nis eine gemeinsame Basis für konkrete Aktionen entdecken könnte. Eine »Bewegung der Rei­chen« sei zu schaffen, welche Zeit als Reichtum und Genuss proklamiert, »eine Bewegung des Nichtstuns und der Sabotage, eine Bewegung der Subtraktion und der Langsamkeit, ver­vielfacht durch die unendliche Geschwindigkeit des Netzes«.