Der kämpfende Bauer als revolutionäres Vorbild?

Sie nennen es Arbeit

Unternehmer, die streiken. Gewerkschaften, die sich davon distanzieren. Kann der kämpfende Bauer ein Vorbild für den prekarisierten Selbständigen sein?

Was haben ein Milchbauer und beispielsweise ein Jungle-World-Autor gemeinsam? Beide sind de facto Unternehmer, aber beide haben irgendwie ein Grundprinzip des kapitalistischen Wirtschaftens nicht verstanden: Dass sich die Produktion einer Ware nur dann lohnt, wenn der Marktpreis der Ware über und nicht unter den Produktionskosten liegt. Bei einem Liter Milch wie bei einem Zeitungsartikel fallen Energie-, Stall- und Futterkosten an, und in beiden Fällen liegen sie derzeit leider über dem Umsatz, den man durch einen Liter Milch oder eben 8 000 Zeichen Text erzielen kann.
Aber Bauern und freie Autoren sind anscheinend keine ökonomisch kalkulierenden Subjekte, sondern hängen irgendwelchen irrationalen Werten nach. Insofern gilt: selber schuld. Schließlich könnte man auch versuchen, auf Märkte umzusatteln, für die sich die Warenproduktion noch lohnt, falls man solche mit geeigneten Produkten bedienen kann. Oder man ergattert eben einen Platz als Arbeitnehmer.

Die Milchbauern aber haben sich für einen seltsamen dritten Weg entschieden: Sie streiken, und erklären sich so gleichsam zu Pseudo-Arbeit­neh­mern. Um gegen jede kapitalistische ökonomische Ra­tio­nalität weiter Milch produzieren zu können, hat der »BDM«, wie sich der »Bund Deutscher Milchviehhalter« geschmackloser Weise abkürzt, seine Mitglieder tatsächlich zu einer Art Streik anhalten können, und damit das getan, was sonst Gewerkschaften tun, um Arbeitnehmerforderungen Nachdruck zu verleihen.
Dabei wollen die Bauern doch partout keine Arbeitnehmer sein. Aber nicht nur aufgrund des Bauernstolzes auf »Selbständigkeit« passten Gewerkschaften und Bauern bisher nicht zusammen. Auch rechtlich gesehen kann eine Gewerkschaft keine Unternehmer organisieren. Der streik­ähnliche Milchboykott der Milchbauern wurde durch kein Streikrecht legitimiert, sondern durch das Wettbewerbsgesetz sanktioniert.
Die Gewerkschaften, die die Beschäftigten in der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelproduktion organisieren, waren sich uneins, wie der Unternehmerstreik der Milchbauern zu bewerten sei. »Wir erklären uns solidarisch mit den Landwirten, die gerechte Preise durchsetzen wollen, genauso, wie wir uns als Gewerkschaft für gerechte Löhne einsetzen«, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt, Hans-Joachim Wilms. Die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten sah durch den Milchboykott der Bauern dagegen die Interessen der Molkereiarbeiter bedroht. »Es kann nicht angehen, dass ein hochwertiges Lebensmittel wie Milch vernichtet wird und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Milchwirtschaft von Kurzarbeit oder gar von Arbeitsplatzverlust betroffen sind«, erklärte ihr Vorsitzender, Franz-Josef Möllenberg .

Auch für die Bauern zählen Gewerkschaften traditionell eher zum Feindeslager. Schließlich treten Bauern auch als Arbeitgeber in Erscheinung, etwa wenn sie polnische Saisonarbeiter ausbeuten. In ihrer Rolle als Arbeitgeber verfügen die Bauern auch über ein recht effektives Sprachrohr. Denn der Deutsche Bauernverband (DVB), der traditionell mit der CDU liiert ist und dessen Spitzenfunktionäre in vielen Aufsichtsräten sitzen, macht sich politisch vor allem für landwirtschaftliche Großbetriebe stark. Zwar beansprucht der Verband, Großbauern mit zahlreichen Lohnarbeitskräften ebenso zu vertreten wie die Lohnabhängigen in der Landwirtschaft. Weil der DBV Interessengegensätze im »Landvolk« effektiv ausblendet, erinnert die Organisation aber eher an den »Reichsnährstand« denn an eine Bauern­gewerkschaft, die auch die Interessen sozial benachteiligter Bauern effektiv vertreten könnte.
Dabei sind immer weniger Bauern Arbeitgeber. Die wenigen Bauern, die den massiven Rückgang der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft bis heute überlebt haben, beschäftigen meist nur sich selbst. Am Ende des landwirtschaftlichen Strukturwandels steht oft der »Quälbetrieb«, in dem nur Bauer und Bäuerin arbeiten, meist ohne Urlaub und freies Wochenende. Dieser »Quälbetrieb« entspricht schließlich auch dem in der Bundesrepublik propagierten Leitbild des bäuerlichen Familienbetriebs.
So anachronistisch dieses Leitbild wirkt, sind die Klein- und Nebenerwerbsbauern gar nicht weit vom Leitbild des modernen Arbeitskraftunternehmers entfernt, der seine eigenen Produk­tionsmittel besitzt, etwa eine Kuh oder ein Laptop, und damit Waren produziert, die er selbst auf dem Markt verkauft. Und dazu wird nicht nur bei den Bauern auch gerne die ganze Bedarfsgemeinschaft mit eingespannt. Für solche Arbeitskraftunternehmer macht es eigentlich keinen Sinn, dem Markt zu niedrige Löhne, also zu niedrige Preise vorzuwerfen oder zu streiken. Der Markt ist kein Subjekt, das sich moralisch unter Druck setzen ließe. Gewerkschaften tun sich daher mit der Organisation von Arbeitskraftunternehmern schwer, ob sie nun Milch oder Zeitungsartikel produzieren.
Dass es der BDM, der sich vom streikerprobten Lokführer-Gewerkschafter Manfred Schell beraten ließ, geschafft hat, eine Art Unternehmerstreik zu organisieren, könnte man als Vorbild für die Solidarität unter prekarisierten Selbständigen anpreisen. Allerdings wird der Erfolg der Milchbauern, die Discounter und Molkereien zu Preis­erhöhungen zu zwingen, nicht von langer Dauer sein, da die Preise schnell wieder sinken werden. Außerdem ist die Landwirtschaft mit anderen Wirtschaftszweigen nicht vergleichbar. Dass sich Bauern durch eine Art Streik gegen das Prinzip von Angebot und Nachfrage stellen, hängt damit zusammen, dass dieses für sie sowieso nicht wirklich gilt.
Jedes Jahr zahlt die EU rund 50 Milliarden Euro an die Landwirte und sorgt damit dafür, dass sie nicht zu den Konditionen des Weltmarkts wirtschaften müssen. Eine Art Planwirtschaft garantiert, dass die Preise trotz Milchsee und Butterberg noch landwirtschaftliche Produktion erlauben. Ein planwirtschaftliches Element ist etwa die Milchquote, die Obergrenzen festlegt, wie viel Milch jeder Betrieb produzieren darf, um den Preis hoch zu halten.

Im Zug der europäischen Liberalisierungspolitik soll die Milchquote 2015 abgeschafft werden. Der Milchpreis könnte damit auf das Weltmarktniveau fallen. Insofern ist der Milchboykott auch als Versuch zu werten, politischen Druck auszuüben, damit die planwirtschaftlichen Strukturen im europäischen Agrarmarkt erhalten bleiben. Die Subventionspolitik der EU wird mittlerweile jedoch als Hindernis für die Entstehung funktionierender Landwirtschaften in Entwicklungsländern angesehen. Die Argumente der Subventions­befürworter beziehen sich dagegen nur auf die angebliche Qualität deutscher Wertarbeit und den Erhalt der Kulturlandschaft. Schließlich war es aufgrund der Subventionspraxis bisher möglich, das Leitbild des schnuckeligen Bauernhofes mit kleinen parzellierten Feldern, den zwölf Kühen, drei Schweinen und 20 Hühnern künstlich am Leben zu halten.
Mit dem Abbau der Subventionen sollen die Bauern jetzt vom staatlich bezahlten Landschaftsgärtner zum Weltmarkt-Wettbewerber werden. Niemand weiß, wie das gehen soll. Auch eine deutsche Bauerngewerkschaft hätte wahrscheinlich keine Antwort. Nur die Ökos meinen, sie hätten eine. Im Deutschlandfunk sinnierte Renate Künast, der Milchstreit sei ein »Sinnbild für die Frage«, ob wir auf »Schnäppchen« scharf seien, oder bereit seien, für »ein Produkt, das wirklich Qualität hat und das auch bei der Herstellung mit der Umwelt ordentlich umging, notfalls einen Cent mehr« zu zahlen. Das sei »eine philosophische Frage«, betonte die Fraktionsvorsitzende der Grünen.
Also: Wenn Sie schon dabei sind, für den Liter Milch freiwillig etwas mehr zu zahlen: Steigen Sie doch auch auf ein Jungle-World-Förder-Abo um. Wenn dann am Monatsende Ihr Konto überzogen ist – vielleicht ist dann ja auch Ihre Bank freiwillig bereit, das Minus einfach auszugleichen, weil sie ein guter Mensch sind. Aber hier nähert man sich wahrscheinlich wirklich den »philosophischen Fragen«.