Die Deutschland AG und ihre Skandale

Wenn Manager schwach werden

VW, Siemens, Post, Telekom – die Deutsch­land AG macht mit Skandalen von sich reden. In ihnen zeigen sich die Züge einer neuen kapitalistischen Ära.

Der Kapitalismus scheint moralisch Konkurs anmelden zu wollen. Das geht schon seit drei Jahren so und begann 2005 mit Franz Münteferings Rede von den »Heuschrecken«. Diese Kritik war insofern nicht zu gewichtig, als sie von einem Sozialdemokraten kam. Ähnliches gilt auch für die Empörung des Bundespräsidenten Horst Köhler über die Finanzmärkte, die zu »Monstern« geworden seien. Hier sprach der ehemalige Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds (IWF), und die Institution war ursprünglich – wundern Sie sich nicht! – der Sache nach sozialdemokratisch. Feste Wechselkurse und die Bereitstellung von Liquidität sollten für Stabilität und Wachstum sorgen.
Wenn der IWF später in Verruf kam, dann deshalb, weil seine Geschäftsgrundlage entfallen war. Der damalige US-amerikanische Präsident Richard Nixon hatte zunächst 1971 die Bindung des Dollars ans Gold, dann 1973 die vereinbarten Wechselkurse aufgehoben und damit das Geld zur Spekulationsware gemacht. Der IWF versuchte, seine Existenzberechtigung zu retten, indem er nun selbst eine marktradikale Politik betrieb, aber auch dieses vorauseilende Forcieren des Unvermeidlichen ist ja eine sozialdemokratische Verhaltensweise. In der Finanzkrise, die 2007 begann und noch andauert, sieht der IWF eine Mög­lichkeit, wieder gebraucht zu werden, und Köhlers Äußerungen sind insofern so etwas wie ein Gefälligkeitsgutachten für seinen ehemaligen Arbeitgeber.
Wenn Georges Soros, der Gründer und Betreiber des »Quantum«-Fonds, wie seit Jahren schon vor dem zügellosen Treiben der Finanzmärkte warnt, so geht es auch nicht ums kritisierte Objekt, sondern um das kritisierende Subjekt. Wer durch Spekulation viel gewonnen hat, möchte das so Errungene nicht so sehr vermehren als sichern, und da kann schon einmal die Angst vor der Dynamik der jüngeren Konkurrenten aufkommen. Ernster zu nehmen als die Aussagen falscher Belastungszeugen sind die Vorkommnisse, durch die der Kapitalismus selbst seinen Ruf zu ruinieren scheint: der Mannesmann-Prozess, die mutmaßliche Steuerhinterziehung des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post AG, Klaus Zumwinkel, verschiedene Schmiergeld­affären bei Siemens, die Spitzelei bei der Telekom.

Für jedes der so sehr angeprangerten Delikte lassen sich mildernde Umstände finden. Ob die hohe Abfindung für Klaus Esser, den Vorstandsvorsitzenden von Mannesmann, sittenwidrig war, kommt sehr auf die Sitten an, die man anzuerkennen bereit ist. Dieser Manager hatte im Übernahmekampf gegen Vodafone den Aktienkurs und damit das Vermögen der Anteilseigner so gesteigert, dass das ihm ausgehändigte Abschiedsgeld aus ihrer Sicht durchaus als angemessen gelten kann.
Nicht nur für Klaus Zumwinkel, sondern für alle in seiner Stellung gehörte es zur Unternehmensraison, »Steuerschlupflöcher« zu nutzen und zu schaffen. Die verschiedenen Bundeskabinette entlasteten immer wieder hohe Gewinne und Einkommen. Die Welthandelsorganisation, die Europäische Union, die Schaffung von wirtschaftlichen Sonderzonen auch durch große Industriestaaten wie z.B. Großbritannien haben eine Situation herbeigeführt, in der Steuern und Tarifverträge wie gefährliche Verstöße gegen ein Naturgesetz erscheinen. Dass ein Millionär wie Zumwinkel dieses Denken auch auf sein Privatvermögen anwenden will, ist zwar gegen das Gesetz, aber nicht gegen das System.
Schon Thomas Mann hat in den »Buddenbrooks« den Begriff der »Usancen« hübsch erläutert. Das sind Praktiken, die Kaufleute einander zugestehen, ohne jemals nach dem Staatsanwalt zu rufen. Sie beruhen auf gegenseitiger Duldung und damit auf dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit. Wer petzt, verdient Klassenkeile. So viel zum Thema Schmiergeld und damit zu Siemens: es ist eine »Usance«, die lange Zeit sogar von der Steuer abgesetzt werden konnte.

Die Spitzelei bei der Telekom könnte bei großzügiger Auslegung als Abwehr von Betriebsspionage interpretiert werden. Als vorher die Gewerk­schaft Verdi die gesetzeswidrige Kontrolle von Verkäuferinnen bei Lidl aufdeckte, brauchte sie danach einige Zeit, um dafür eine große Öffentlichkeit zu gewinnen. Im Fall der Telekom gelang die Skandalisierung sofort. Auf diesen Klassenunterschied werden wir noch zurückkommen müssen. Dass Siemens sich eine Gewerkschaft zu­sammenkaufte, ist auch eine schon etwas ältere »Usance«. Solche Verbände nannte man früher die »Gelben«. Es handelte sich um eine Unterkategorie der Sozialpartnerschaft. Eine andere Ausprägung war die Kumpanei zwischen dem damaligen Vorstandsmitglied Peter Hartz und dem Vorsitzenden des Betriebrats, Klaus Volkert, bei der Volkswagen AG.
Diese Einzelfälle genügen bereits, um verallgemeinert zu werden. Die Skandale sind im Wesentlichen eine innere Angelegenheit des Kapitals. Hohe Managergehälter sind kein Abzug vom Lohn der Arbeiterinnen und Arbeiter und der kleinen und mittleren Angestellten, sondern von der Dividende. Hier besteht ein Konflikt zwischen den Vorständen einerseits und den Aktionären andererseits. Das war nicht immer so: Im so genannten Managerkapitalismus hatten die Vorstände die Aufgabe, durch langfristige Investitionen das Eigentum der Anteilseigner zu wahren und zu mehren.
Seit in den achtziger Jahren die »Shareholder-Revolution« ausgerufen wurde, wollen die Aktionäre ihr Glück lieber alleine versuchen: durch den schnellen Kauf und Verkauf. Dazu bedarf es eines neuen Managertyps, der auf andere Weise sein Geld wert sein muss. Steuerhinterziehung wird so lange ein Delikt sein, wie es überhaupt Steuern gibt. Ganz wird man nicht auf sie verzichten können. Aber je weniger Regulierung zugestanden wird, desto weniger Verstöße werden zu beklagen sein. Die Telekom-Affäre flog mit derartigem Getöse auf, weil nicht nur Betriebsräte, sondern auch Mitglieder des Aufsichtsrats und Journalisten bespitzelt wurden. Das kann unter anderem dem Medienkapital nicht passen, und dieses ist artikulationsfähiger als eine Gewerkschaft, die ohnehin ständig Mitglieder verliert.

Bei Siemens und VW und in der Affäre Hansen bei der Deutschen Bahn AG wird ein inzwischen überholter Zustand angeprangert, in dem es noch nötig war, Arbeiternehmervertreter zu kaufen und zu schmieren. In seiner Überwindung – und dazu dienen die gegenwärtigen Skandale – zeichnen sich die Züge einer neuen Ära des Kapitalismus ab: mit schwächeren Managern des alten Typs, ruinierten Gewerkschaften, reduzierten ökonomischen Funktionen des Staates, also weniger Steuern, mit schnellerem Kapitalfluss. Die gegenwärtige Empörung verschleiert und för­dert diesen Übergang. Entgegen dem Anschein wird er von ihr aber weder behindert noch verhindert.