Putschplan des Militärs in der Türkei

Ein Drehbuch für die Wirklichkeit

In der Türkei sind erneut Dokumente aufgetaucht, die einen bevorstehenden Putsch des Militärs nahelegen. Die Frage ist, wem dies nützt.

Der Zeitpunkt für einen politischen Skandal ist günstig. Mitte Juni tauchte plötzlich ein angeblich geheimes Schreiben des türkischen Generalstabs bei der oppositionellen Zeitung Taraf auf. Das Militär, so heißt es in dem Dokument, solle alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um prominente Juristen, Journalisten, Künstler und Professoren wieder »auf Kurs« zu bringen und das Land vor den »religiös-reaktionären Kräften« der Regierungspartei AKP von Premierminister Recep Tayyip Erdogan zu schützen. Auch Diffamierungskampagnen gegen die Kurdenpartei DTP und Militäraktionen im Grenzgebiet zum Nord­irak werden darin angeregt.
Taraf veröffentlichte das Dokument am 20. Juni. Nachdem Generalstabschef Yasar Büyükanit umgehend dementiert hatte, dass es echt ist, erklärte der Generalstab am 28. Juni auf seiner Webseite, die für die Weiterleitung Verantwortlichen seien identifiziert worden. Ob es sich um ein echtes oder gefälschtes Dokument handelt, wird dabei nicht ersichtlich. Erstaunlich ist, dass in der Erklärung, angesichts einer offensichtlichen Involvierung von Militärpersonal in die Affäre, von Kreisen die Rede ist, die »den Streitkräften feindlich gesinnt« seien.
Das Taraf zugespielte Schreiben taucht in spannungsgeladenen Zeiten auf. Wenige Wochen, nachdem das Verfassungsgericht die Kopftuchreformen der Regierung von Erdogan annulliert hat, wird in der Türkei allgemein von einem Verbot der AKP ausgegangen. Der Machtkampf zwischen der kemalistischen Staatselite und dem religiös-konservativen Lager spitzt sich damit weiter zu.

Ein sehr nützliches Dokument ist Taraf demnach in die Hände gespielt worden, denn es erklärt vieles, was in der Türkei in den vergangenen Monaten passiert ist. Doch es ist abwegig zu glauben, dass die Hinweise auf einen »weichen Putsch«, wie ihn die Zeitung nennt, irgendeinem Journalisten in der Türkei nicht längst bekannt gewesen wären. Deswegen lohnt es sich, darüber nachzudenken, was für eine Funktion solche »Geheimpapiere«, die übrigens immer wieder sporadisch in der Türkei auftauchen, erfüllen. Und inwiefern die türkische Medienwelt in den ewig gleichen Strukturen verfangen ist.
Taraf ist eine aufstrebende Zeitung, die darum bemüht ist, sich als neue kritische Stimme zu etablieren. Viele der Journalisten haben früher für die Dogan-Mediengruppe gearbeitet, zu der auch die linksliberale Zeitung Radikal gehört, die Boulevardzeitung Hürriyet und die Fernsehkanäle Kanal D und CNN Türk. Radikal hat in diesem Medienverbund, der die öffentliche Meinung stark beeinflusst, die Rolle der kritischen Stimme inne. Zurzeit vollzieht sich jedoch ein großer Autorentransfer. Wichtige Kolumnisten wie Murat Belge haben Radikal mittlerweile verlassen, um für Taraf zu schreiben.
Für Taraf schreibt auch Alper Görmüs, der vergangenes Jahr ein anderes Geheimdokument enthüllte. Die versteckten Tagebücher des ehemaligen Oberbefehlshabers der Marine, Özden Örnek, waren der Zeitungsknüller im vorigen Sommer. Die Zeitschrift Nokta veröffentlichte Auszüge daraus. Darin wird eine Armee dargestellt, die sich berufen fühlt, die Republik auch vor der Bevölkerung zu retten. Als die Wähler nach dem Kollaps der Wirtschaft 2000/2001 die alten, mit dem Establishment eng verbundenen Parteien von der Macht entfernten und stattdessen mit der frisch gegründeten AKP die erwachende anatolische Bourgeoisie an die Regierung brachten, war das Militär beunruhigt. Nokta zufolge heißt es dazu in Örneks Tagebuch: »Diese Regierung müssen wir stoppen«, darin seien sich die Kommandeure einig gewesen.
Es stellt sich nun allerdings die Frage, ob die Tagebücher echt sind. Görmüs behauptet das bis heute. Örnek sagt dagegen, sie seien eine Fälschung. Außenminister Abdullah Gül bestätigte der Zeitung Milliyet, seine Regierung habe von den Plänen »gewusst«. Was hätte er sonst sagen sollen?
Die Szenarien im Hintergrund stimmen alle irgendwie und irgendwie auch nicht. Sie erklären einiges, aber politische Folgen haben diese Skandalpublikationen nie, sie wirken meist ebenso gesteuert wie das, was sie enthüllen. Bereits Anfang der neunziger Jahre begann die Zeitschrift Aydinlik von Dogu Perinçek damit, über die Konterguerilla zu schreiben. Der Ausbilder der Konterguerilla, Cem Ersever, enthüllte, wie die türkische Armee PKK-Gefangene zu Kampfmaschinen und Under-Cover-Agenten »umerzog«. Er deutete auch an, dass die Konterguerilla gemeinsame Sache mit der damals erstarkenden Hizbollah mache. Die von Kurden dominierte islamistische Terrororganisation wurde damals gegen die PKK eingesetzt.
Soner Yalçin, der Journalist, der die Ersever-Geschichte veröffentlichte, ist heute einer der Dreh­buchautoren der gewaltverherrlichenden Agenten­serie »Tal der Wölfe«. Billigste Verschwörungstheorien, ultranationalistische Schwarz-weißmalerei und eine rassistische Grundstimmung sind der Stoff, aus dem dabei die Träume sind. Vorbild dafür ist eine andere Skandalgeschichte, die Su­sur­luk-Affäre. Als 1996 der aus dem ultrarechten Spektrum stammende Konteragent Abdullah Catli zusammen mit einem Polizeipräsidenten und einem Regierungsabgeordneten in einem Auto bei Susurluk verunglückte, wurden Aydinlik Geheimdokumente zugespielt. Der Hintergrund der Affäre schien sich aufzuklären, doch abgesehen von der Bestrafung einzelner Agenten blieb dieser große politische Skandal absolut folgenlos.

Es wirkt so, als würden die kritischen Publikationsorgane mit einigen Informationen versorgt, damit ein Teil der ohnehin offensichtlichen Skandale wohldosiert publiziert wird. Der Zweck, der mit dem Auftauchen solcher Dokumente verbunden ist, ist leider nie Gegenstand der Analyse. Yasemin Congar, die stellvertretende Chefredakteurin von Taraf, behauptet voller Optimismus, demokratisch denkende Angehörige der Armee stünden hinter den jüngst aufgetauchten Schriftstücken.
Die Parlamentarische Versammlung des Europa­rats verwarnte vergangene Woche die Türkei, der angedrohte Verbotsprozess gegen die AKP sei besorgniserregend für die türkische Demokratie. Die türkische Öffentlichkeit und auch die Medien haben darauf allerdings keinerlei Einfluss, die öffentliche Meinung ist faktisch zur Apathie verurteilt. Den Fortgang der Geschichte können politische Skandale nur dann beeinflussen, wenn sie nicht Teil der Gerüchteküche bleiben, sondern politische Konsequenzen haben.