Pogrome und Fluchtgründe in Europa

Helga S. ist überall

Die Debatte um das Asylrecht begann mit einem Pogrom gegen Roma in Rostock. Heutzutage finden in Neapel wieder Übergriffe gegen Roma statt. Auch innerhalb Europas gibt es Gründe zur Flucht.
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Es war wohl eine der zynischsten politischen Entscheidungen der Nachkriegszeit. Ausgangspunkt der Asylrechtsänderung 1993 waren die schweren Pogrome 1992, vor allem jene in Rostock-Lichtenhagen. Anstatt der Täter erklärte man, den Hetz-Parolen der Neonazis folgend, die Opfer zum Problem, welches es zu lösen gelte. Der frisch wiedervereinigte Staat machte sich in einem nationalen Rausch zum Vollstrecker des rassistischen Lynchmobs. »Ausländer raus«, das klang im schwarz-rot-goldenen Nachwende-Deutschland plötzlich wie das selbstverständliche Recht einer »souveränen Nation«.
Doch, so fragte unschuldig dreinblickend die Dresdner Morgenpost, »wie konnte es zu diesem ekelhaften Ausbruch von Hass kommen? Seit Monaten gärte es im Stadtteil Lichtenhagen. Die Zast (Zentrale Aufnahmestelle, d. Red.) liegt mitten im Neubaugebiet, in dem 17 Prozent arbeitslos sind. Seit Wochen kamen fast nur Sinti und Roma zu Hunderten hierher, oft von illegalen Schlepperorganisationen geschleust. Die Zast war völlig überfüllt. Familien campierten im Freien, hinterließen bergeweise Schmutz, Zeugen sagen, dass Kinder und Jugendliche gezielt von ihren Vätern auf Beutetour geschickt wurden: Keller und Hausflure wurden ausgeräumt. Helga S. (43), Verkäuferin im Supermarkt vor der Zast: ›Die kamen in Horden ins Geschäft, klauten, plünderten und urinierten in die Regale.‹« So bediente das Lokalblatt am 26. August 1992 willfährig und heuchlerisch die Ressentiments.
Der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina hatte zwischen 1991 und 1993 zu einer Massenflucht unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, darunter viele Roma, nach Westeuropa geführt. Ab 1999 wurden die Roma von albanischen Nationalisten aus dem Kosovo vertrieben und suchten unter anderem in Deutschland Zuflucht. Heutzutage, 16 Jahre später, erleben wir Pogrome gegen Roma in Italien. Die Regierung »reagiert« auch dort mit Verschärfungen des Migrationsrechts. Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord plant sogar, eine Fingerabdruck-Kartei sämtlicher Roma anzulegen.
Obwohl die Roma-Hetze Ausgangspunkt der Asylrechtsänderung 1993 war – im Prinzip betrifft das Asylrecht die Roma gar nicht. Bürgerkriegsflüchtlinge fallen nicht unters Asylrecht, mit den Staaten des früheren Jugoslawiens bestehen seit den neunziger Jahren bilaterale Rückführungsabkommen. Und die meisten Roma in Italien kom­men heute aus Rumänien – einem Mitgliedstaat der EU. Neben der Abschottung an den europäischen Außengrenzen, gibt es auch innerhalb Europas ein »Flüchtlingsproblem«. Wobei das Problem dabei selbstverständlich nicht die Flüchtlinge sind, sondern in den Ursachen ihrer Flucht besteht.
Unbehelligt terrorisieren Rechtsextremisten in Ungarn die Roma. Auch in Rumänien kam es in der Vergangenheit mehrfach zu Pogromen, überall im Land sind Roma mit Rassismus und Diskriminierung konfrontiert, viele leben in bitterer Armut. Etwa ein Drittel sind Analphabeten. Im Kosovo herrscht unter Roma aufgrund der Diskriminierung eine Arbeitslosigkeit von beinahe 100 Prozent. Trotzdem drohen nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nun weitere Abschiebungen aus Deutschland. Wetten, dass Verkäuferin Helga S. (59) aus Rostock dafür ist?