Die neue Militärdoktrin der französischen Regierung

Leibgarde für bedrohte Potentaten

Die französische Armee soll künftig immer mehr aus High-Tech-Spezialisten bestehen. Deshalb sieht die neue Militärdoktrin der Regierung den Abbau von 16 Prozent der Gesamtstärke der Sicherheitskräf­te vor. Gleichzeitig definiert sie neue Kriegs­szenarien wie Epidemien, Cyberattacken und Migrationsströme und sucht die Annährung an die Nato.

Das war eine Sensation. Eine Gruppe anonym bleibender Generäle meuterte gegen die Regierung und kritisierte öffentlich unter einem Kollektivnamen deren Militärpolitik. Es geschah am Donnerstag vor zwei Wochen, als in der Pariser Zeitung Figaro eine Abrechnung mit der neuen rüstungspolitischen Doktrin der französischen Regierung erschien. Diese Doktrin war zwei Tage zu­vor von Staatspräsident Nicolas Sarkozy mit der Veröffentlichung des neuen »Weißbuchs der Verteidigung« vor 3 000 Militärs offiziell verkündet worden.

Die Autoren der ausführlichen Kritik sind hochrangige Offiziere der Landstreitkräfte sowie Drei-Sterne-Generäle der französischen Armee. Ihre Namen sind nicht bekannt. Der armeeeigene Nach­richtendienst DPSD versucht nunmehr, die Urheber des Artikels zu identifizieren. Ihnen wird vorgeworfen, ihre »Neutralitätspflicht« und »Pflicht zur Zurückhaltung« verletzt zu haben. Mutmaßlich müssen die Militärs, sofern ihre Iden­tität festgestellt werden kann, mit dienstrechtlichen Konsequenzen und Sanktionen rechnen. Ihren Gastbeitrag für Le Figaro hatten sie unter dem Kollektivpseudonym »Surcouf« veröffentlicht, so hieß vor 200 Jahren ein berühmter französischer Freibeuter.
Aufhänger ihrer Kritik ist unter anderem die geplante Verkleinerung der französischen Armee, die mit ihrer Zurichtung auf eine hocheffiziente, durchtechnisierte, aus Spezialisten bestehende Interventionstruppe einhergeht.
Innerhalb von sechs bis sieben Jahren soll sie 54 000 Soldaten weniger aufweisen, das bedeutet einen Abbau um 16 Prozent der Gesamtstärke. Dadurch spart die Armee Soldzahlungen. Aber gleichzeitig sollen 377 Milliarden Euro zusätz­licher Mittel für die Materialbeschaffung bei den Rüstungsgütern ausgegeben werden.
Es handelt sich also vor allem darum, die Fußtruppen – die in modernen Kriegen und bei Interventionen unnütz sind – und manche überdimensionierten Transportkapazitäten abzubauen zugunsten einer Armee von High-Tech-Spezialisten. 30 000 Mann sollen künftig innerhalb von sechs Monaten für Operationen auf »äußeren Schau­plätzen« entsandt werden können. Derzeit sind es weltweit 11 000, größtenteils in Afrika.
Auf dem afrikanischen Kontinent möchte man nach dem neuen »Weißbuch« zukünftig ebenfalls an Truppen sparen, indem eine französische Militärbasis dort geschlossen werden soll. Derzeit verfügt Frankreich dort über drei große Basen, in Dakar, Libreville und Djibouti. Seit mehreren Jahren wird aber darüber debattiert, den dort betriebenen Aufwand zu verringern, weil dieser sich inzwischen als zum Teil kontraproduktiv erwiesen hat.
Denn im Laufe der Zeit hat sich herausgestellt, dass die Truppen zum Teil im Dienste von Interessen eingesetzt wurden, die die französische Regierung nicht – oder nicht hauptsächlich – als die eigenen betrachtet. Ihre Interventionen dienten nämlich oftmals dazu, bedrohten Diktatoren, die sich gegen einheimischen Rebellenbewegunge oder Aufstände zur Wehr setzten, den Kopf zu retten. Dabei hätte Frankreich aber oftmals mit den Rebellen genauso gut ins Geschäft kommen können wie mit den amtierenden Regimes. In der Praxis erwies sich dies etwa 1990 im Tschad, als Frankreich den bis dahin amtierenden Diktator Hissein Habré fallen und den Rebellenchef Idriss Déby, den jetzigen Präsidenten, auf die Hauptstadt N’Djamena marschieren ließ. Seit längerem erklärt die französische Regierung, man sei es leid, dass die französische Armee die »Leibgarde für bedrohte Potentaten« abgebe.
Das bedeutet keineswegs, dass die neue französische Politik sich von ihren traditionellen post- und neokolonialen Bestrebungen abwendet. Vielmehr definiert auch das »Weißbuch« ausdrücklich etwa »die afrikanische Westflanke« als Zentrum strategischer Interessen des eigenen Landes.
Ansonsten definiert die neue verteidigungspolitische Doktrin so genannte »neue Kriegsszenarien«. Dazu gehören terroristische Angriffe, aber auch »massive Informatikattacken«, die – im Namen des internationalen Wirtschaftskriegs – von ausländischen Mächten unterstützt werden könnten. Auch große Epidemien, deren Ausbruch »innerhalb von 15 Jahren« von den Autoren der Doktrin als unvermeidlich deklariert wird, gehören dazu. Nicht zuletzt aber auch »Migrationsströme«, die als potenzielle militärische Bedrohung betrachtet werden – und dies insbesondere im Hinblick auf »Überseegebiete« wie Französisch-Guyana, die Antilleninsel Guadeloupe und die zu den Komoren gehörende französische Insel Mayotte. Ihre »Überflutung« mit Zuwanderern aus den benachbarten Ländern und Armutsregionen wird befürchtet.

Die neue Doktrin gefällt den anonymen Generälen nicht. Denn sie bemängeln, durch den geplanten Truppenabbau werde die Armee kaputtgespart. Während die Rüstungsausgaben weltweit in den vergangenen Jahren um 45 Prozent gewachsen seien, dürfe Frankreich nicht seinerseits die Zahl der Soldaten reduzieren. Zum anderen bemängeln die hochrangigen Militärs einen von ihnen befürchteten Rückzug aus dem »Hin­terhof« Frankreichs in Afrika – und sprechen sich dafür aus, dass Frankreich, statt seine »militärischen Leistungen« dort zu reduzieren, »20mal stärkere Anstrengungen« auf dem Kontinent unternehmen müsse – nun, wo die USA und vor allem China in die bisherigen französischen Interessensphären einzudringen drohten.
Auch der Gewerkschaftsbund CGT bemängelt in einer ersten Reaktion, Frankreichs »nationales Verteidigungsinstrument« werde durch die neuen Pläne »zerstört«. Zwar kritisiert der Gewerkschaftsbund auch die Tendenzen hin zur verstärkt weltweit aktiven Interventionsarmee. Gleich­zeitig macht die CGT sich aber auch für den Erhalt »bedrohter« Truppenstandorte sowie der Ar­mee zuarbeitender Versorgungs- und anderer Betriebe stark. Dahinter steht vor allem die sehr materielle Sorge um den Verlust von Arbeitsplätzen. Gleichzeitig aber enthält die Kritik eine ausgesprochen unangenehme ideologische Begleitmusik: »Landesverteidigung« sei wichtiger als die Anpassung an die Nato-Interessen, das heißt an ausländische Interessen.

Zugleich findet tatsächlich eine verstärkte Annäherung an die Nato statt. Die neue rüstungspolitische Doktrin sieht für den kommenden Nato-Gipfel die Rückkehr Frankreichs in den militärpolitischen Ausschuss des Nordatlantikpakts vor, den Frankreich 1966 unter Präsident Charles de Gaulle verlassen hatte. Der Gipfel wird im April kommenden Jahres in den deutsch-französischen Grenzstädten Strasbourg und Kehl stattfinden. Zugleich möchte Frankreich aber seine »autonome« Nuklearstreitmacht behalten, weshalb eine gleichzeitige Einbindung in die Nukleare Planungs­gruppe der Nato abgelehnt wird, und drängt auf eine »bessere Aufgabenverteilung zwischen Amerikanern und Europäern« innerhalb des Militärbündnisses.