Die Entscheidung über den Prozess gegen den mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Iwan Demjanjuk

Letzte Chance zum Aufschub

In den nächsten Monaten entscheidet sich, ob dem NS-Kriegsverbrecher Iwan Demjanjuk in Deutschland der Prozess gemacht wird.

»Es ist sehr schwierig, sich die Energie vorzustellen, die nötig ist, um diesen Kampf über all die Jahre durchzustehen«, sagte Reverend John Nako­nachny, Pastor in der Gemeinde St. Vladimir’s in Cleveland, über sein Gemeindemitglied. »Aber er ist immer standhaft geblieben.« Der unauffällige regelmäßige Kirchgänger, den der Reverend kürzlich im Gespräch mit einem Journalisten so lobte, ist Ende Mai endgültig aus den USA ausgewiesen worden. Vom Simon-Wiesenthal-Center wird er auf Platz zwei der Liste der meistgesuchten NS-Verbrecher geführt. Möglicherweise wird er bald nach Deutschland ausgeflogen.

Iwan Demjanjuk, der 1920 in der heutigen Ukraine geboren wurde, kam 1941 als Soldat der Roten Armee in deutsche Gefangenschaft. Dort meldete er sich als so genannter Hilfswilliger bei der SS für den Einsatz als Aufseher in deutschen Konzentrationslagern. Nach Kriegsende gelang es ihm, unbehelligt in die USA zu emigrieren, wo er als John Demjanjuk eine Anstellung als Automechaniker fand. Erst 1977 entdeckten die amerikanischen Einwanderungsbehörden Anhaltspunkte dafür, dass Demjanjuk den Krieg keineswegs, wie von ihm behauptet, als Gefangener der Deutschen verbracht hatte. Dokumente belegten vielmehr, dass er als Wachmann in verschiedenen Konzentrationslagern tätig gewesen war. Demnach sollte es sich bei Demjanjuk gar um »Iwan den Schrecklichen« handeln, einen Wach­mann des Konzentrationslagers Treblinka, der die Gaskammern in Betrieb hielt und für besonders sadistische Folterungen vor allem weiblicher Häftlinge berüchtigt war.
Die USA entzogen Demjanjuk daraufhin die Staats­bürgerschaft und lieferten ihn an Israel aus, wo ihm der Prozess gemacht wurde. In einem Verfahren, das die israelische Öffentlichkeit über Monate beschäftigte, bezeugten Überlebende des Konzentrationslagers Treblinka, bei Demjanjuk handele es sich um »Iwan den Schrecklichen«. 1988 wurde er in Israel zum Tode verurteilt, als einzige Person nach Adolf Eichmann. Allerdings hob der israelische Oberste Gerichtshof den Schuld­spruch im Jahr 1993 wieder auf: Die Richterinnen und Richter erklärten nach dem Auftauchen neuer Dokumente aus der ehemaligen Sowjetunion, es bleibe ein »Restzweifel« daran, dass sich hinter »Iwan dem Schrecklichen« tatsächlich Demjanjuk verberge. Demjanjuk wurde freigelassen und lebt seither wieder in Cleveland, Ohio.
Erst ein weiteres Jahrzehnt später, im Jahr 2002, gelangte die amerikanische Justiz an Personallisten aus dem Vernichtungslager Sobibór, die einst der Roten Armee in die Hände gefallen waren. Demnach kann es, anders als im Fall von Treblinka, als sicher gelten, dass Demjanjuk von Ende März bis Mitte September 1943 in Sobibór an der Ermordung von mindestens 25 000 Jüdinnen und Juden beteiligt war. Die meisten Opfer wurden noch am Tag ihrer Ankunft umgebracht, wie die Dokumente säuberlich festhalten. Der US Supreme Court entzog Demjanjuk daraufhin im Frühjahr endgültig die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Weil Demjanjuk in Israel nicht erneut angeklagt werden kann, wandten sich die amerikanischen Ju­stizbehörden diesmal an Deutschland. Ob die Bundesrepublik den 88jährigen aufnehmen und ihm den Prozess machen wird, wie die US-Behörden es vorschlagen, ist allerdings noch unklar. Die Entscheidung ist abhängig von einer umständlichen Abstimmung zwischen den politischen Spitzen der deutschen Justiz.
Die Dokumente, die dem US Supreme Court als Beweise gegen Demjanjuk genügten, will die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg erst noch einige Wochen lang »zusammenstellen«, bevor irgendetwas geschieht, wie ihr Leiter, Kurt Schrimm, der Jungle World erklärt. Schrimm, der vom Spiegel kürzlich unbeirrt zum deutschen »Nazijäger« erklärt wurde, spricht sich zwar für eine Anklage Demjanjuks in Deutschland aus. Seine Behörde will aber voraussichtlich erst im August bei der Generalbundesanwältin Monika Harms bean­tragen, dass diese beim Bundesgerichtshof den Antrag stellt, die Angelegenheit einem deutschen Landgericht seiner Wahl zu übertragen.
Erst dort, in einem noch unbekannten Landgericht, wird letztlich die Entscheidung darüber fallen, ob Demjanjuk in der Bundesrepublik angeklagt und somit von den USA übernommen wird. Mit einer allzu baldigen Abschiebung nach Deut­schland braucht der 88jährige deshalb nicht zu rechnen.

Demjanjuk wäre, wenn die Justiz sich entschiede, kein Auslieferungsgesuch an die USA zu stellen, bei weitem nicht der einzige noch lebende NS-Verbrecher, zu dessen Anklage »im Namen des Volkes« deutsche Landgerichte sich nur schwer bewegen lassen. Die sehr vereinzelten »letzten großen Kriegsverbrecherprozesse« der vergangenen Jahre haben das noch einmal eindrucksvoll gezeigt.
So führt die Staatsanwaltschaft am Landgericht Stuttgart seit inzwischen rekordverdächtigen sechs Jahren ein Ermittlungsverfahren gegen eine Gruppe ehemaliger SS-Soldaten, die am 12. August 1944 im toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema etwa 560 Menschen ermordeten. Eine Anklage wegen Mordes haben die greisen Be­schuldigten aber kaum mehr zu befürchten. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft beharrt darauf, dass sie bei dem Massaker im August 1944, bei dem Kinder an Häuserwänden erschlagen wurden, keinen hinreichenden Verdacht auf »Grausamkeit« oder »niedrige Beweggründe« erkennen könne. Damit wären die Taten verjährt. Die heute über 80jährigen Täter sind zwar im Jahr 2005, von einem italienischen Gericht in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Bundesrepublik liefert sie aber nicht an Italien aus.
Ähnlich ist es im Fall von Heinrich Boere, der einst als Angehöriger eines SS-Sonderkommandos in den Niederlanden Mordaufträge ausführte. Ein niederländisches Gericht verurteilte ihn 1949 wegen mehrfachen Mordes. Boere konnte aber in die Bundesrepublik fliehen. Als die Alliierten in den fünfziger Jahren die Zuständigkeit für die Verfolgung von NS-Verbrechen auf die westdeutschen Gerichte übertrugen, kam es hierzulande aber anstatt zur Anklage Boeres zu massenhaften Freisprüchen seiner ehemaligen Kameraden. Die Bundesrepublik weigerte sich gegenüber den Niederlanden bis zuletzt, Boere aus­zuliefern oder ihn selbst anzuklagen. Erst im April dieses Jahres ist gegen den inzwischen 86jährigen eine Anklage vor dem Landgericht Dortmund erhoben worden, deren Ausgang noch ungewiss ist.
Auch der ehemalige SS-Sturmbannführer Friedrich Engel, der als Chef des Sicherheitsdienstes von Genua die Ermordung von 246 Geiseln zu verantworten hat, wurde im Jahr 1999 von einem italienischen Gericht in Abwesenheit verurteilt. Er blieb jedoch bis zuletzt ohne Strafe: Er starb 2006 in Hamburg, einen Monat nach seinem 97. Geburtstag. Der Bundesgerichtshof hatte ihn in einem viel beachteten deutschen Parallelverfahren im Jahr 2004 vom Vorwurf des Mordes frei­gesprochen. Der in Italien als »il boia di Genova« (der Henker von Genua) berüchtigte Engel habe nämlich, so die Begründung des höchsten deutschen Strafgerichts, nicht »vorsätzlich grausam« gehandelt. Deshalb sei die Tat verjährt.

Sollte es Kurt Schrimm von der Ludwigsburger Zentralen Stelle tatsächlich gelingen, Demjanjuk »noch in diesem Jahr« einzufliegen, so stünde in Deutschland einer der größten Prozesse gegen einen mutmaßlichen NS-Verbrecher seit Jahren bevor, und vermutlich auch einer der letzten. In diesem Fall erwarte er von den deutschen Behörden, »dass sie das Richtige tun«, sagt der Sprecher der israelischen Botschaft in Berlin. Präzedenzfälle wie jener Engels, auf die sich einzelne Landgerichte in Deutschland bereits berufen, stimmen andere jedoch wenig optimistisch.
Das Simon-Wiesenthal-Center setzt daher, nachdem es ursprünglich die Bundesrepublik zu einer Aufnahme Demjanjuks gedrängt hatte, inzwischen auch auf Spanien. Da unter den Opfern Demjanjuks Spanierinnen und Spanier waren, könnten die dortigen Gerichte sich ebenfalls für zuständig erklären. Spanische Richter genießen hinsichtlich der Verfolgung so genannter Auslandstaten eine größere Unabhängigkeit von politischen Vorgaben als ihre Kollegen in Deutschland. Um einen Fall mit internationaler Relevanz zu übernehmen, müssen sie nicht erst die Zustimmung eines Generalstaatsanwalts einholen, der dem Justizministerium untersteht. »Es hat wesentlich mehr Sinn, Demjanjuk in Deutschland anzuklagen als in Spanien«, erklärt der Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem, Efraim Zuroff. »Aber zwei Op­tio­nen sind besser als eine.«