Zum Ende von Rainald Goetz' Blog.

Das Blog als Form

Unterschiedliche Ansichten über Rainald Goetz. Zum Ende seines Blogs »Klage«.

Dienstag, 1.Juli 2008, 14:06, Belo ­Horizonte – Bei uns im Haus haben wir jetzt eine Maus. Jedenfalls haben wir eine Maus gesehen. Meistens sind es dann schon mehr. Soll die Katze sich drum kümmern, oder der Kater. Alle tollen Menschen, die ich kenne, ziehen nach Berlin oder sind es schon. Fast alle jedenfalls. Und so viele tolle Men­schen kenne ich auch gar nicht. Irgendwann ist man dann ganz alleine in einer Stadt. Überhaupt kein Grund zur Klage, ganz im Gegenteil. »Ich bin noch lebendig«, schreibt mir jemand per E-Mail. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Mittwoch, 2. Juli 2008, 18:07, Belo Horizonte – ­Anfrage von der Jungle World: »Rainald Goetz. Sein Blog und dessen Ende. Demnächst das Buch. Die Debatte darum. Ich denke, du bist im Bilde. Hättest du nicht Lust, den Fall Goetz für uns aufzuschreiben?« Lust: Ja. Mein erster Gedanke: Rainald Goetz, der ist ja auch irgendwie an mir vorbeigegangen. So wie Techno, als es noch die Love Parade in Berlin gab, also insgesamt die Neunziger und die Restjahre aus den Nullern davon. Als Techno noch Rave hieß. Goetz, »Rave«, Erzählungen; das war vor zehn Jahren, 1998. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Mittwoch, 2. Juli 2008, 20:05, Belo Horizonte – Mein zweiter Gedanke (wegen Goetz, wegen »Klage«): Vierzig Jahre Achtundsechzig. Dazu ­gehört übrigens auch Roland Barthes’ furioser Essay »Tod des Autors«, ein Schlüsseltext poststrukturalistischer Dekonstruktion: Der Autor ist gar nicht Urheber, sondern zitiert nur, was bereits schon zitiert wurde. Jeder Text ist eine Verkettung von Texten, jedes Zitat ein Verweis auf ein anderes Zitat. Vielfalt. Der Autor ist nach Barthes nicht mehr als ein Schreiber, der mit dem Schreiben überhaupt erst entsteht. Der Ort der Literatur ist also nicht die Originalität des Autors. »Es gibt aber einen Ort, an dem diese Viel­falt zusammentrifft, und dieser Ort ist nicht der Autor (wie man bislang gesagt hat), sondern der Leser. Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusam­men­setzt, einschrieben, ohne dass ein einziges verloren ginge.« Und dann schreibt Barthes zum Schluss seines übrigens sehr kurzen Textes: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.« Goetz, zweifach promoviert, Dr. med. und Dr. phil., ist als Schreiber aus diesem Tod geboren: zehn Jahre später, Ende der Siebziger, mit Veröffentlichungen aus seinem Tagebuch, als er noch Medizin studierte. Barthes wendete sich gegen den Biografismus, aus dem der moderne Autor hervorgegangen ist. Goetz wendet sich mit dem Biografismus gegen seine Form, versucht, Biografie zu schreiben, ohne Autor zu sein. »Irre« heißt sein erster Roman von 1983; Punk ist die Referenz, das Zitat. Ingeborg-Bachmann-Preis, in Klagenfurt (»Klage«!) ritzt sich Goetz, ein hochgebildeter Mensch von 29 Jahren, mit einer Rasierklinge in die Stirn. Blut. Er schreibt in sein Gesicht. Aber auch das ist ein Zitat, klar: Iggy Pop (zum Beispiel). – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Ein Kommentar

Kommentar von: A. | 9. Juli 2008: Barthes’ Text von 1968 erschien merkwürdigerweise schon 1967 in englischer Übersetzung: Im Doppel-»Heft« des Aspen-Magazins 5+6, zusammen mit Susan Sontags »The Aesthetics of Silence« und Georg Kublers »Style and the Representation of Histo­rical Time« – als Essay mit »postmodern perspective«. Dazu gab es mehrere Schallplatten, u.a. mit Aufnahmen von Feldman, Cage und Du­champ … (www.ubu.com/aspen/aspen5and6)

Donnerstag, 3. Juli 2008, 00:13, Belo Horizonte – Man sagt: Das alte Internet war statisch, die Seiten waren statisch. Jetzt, Web 2.0, ist alles viel dynamischer. »Alle dürfen mitmachen.« Das ist Unfug: a) dürfen nicht alle mitmachen; b) die, die mitmachen dürfen (oder können), durften (oder konnten) auch schon vorher mitmachen, im Netz 1.0, aber auch schon davor: mit Stift und Papier oder Schreibmaschine. Interessant ist aber, wie diese Idee sich durchsetzt: Mit den Blogs, die für das Web 2.0 so sig­nifikant sein sollen, wird nämlich jeder ganz im Sinne von Barthes zum Schreiber, gleichzeitig stirbt aber der Blogger als Autor. Goetz spricht nicht selber, er lässt sprechen. Seine Sprache ist die der Werbung, Wortmüll-Hate, Speech Slo­gans, Samples, Worthülsen, leere Verpackungen – auch das gehört dazu, wenn er E. Jelinek einmal »verhungerte Germanistenfotze« genannt hat. Goetz, »Abfall für alle«, Online-Tagebuch 1998/1999. Goetz schreibt ins Internet, was andere, die ihn und sich selbst für Autoren halten, sich nicht trauen: Banalitäten und Gemeinheiten. Deswegen ist er klug; er macht aber seine Leser nicht unbedingt schlau. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Freitag, 4. Juli 2008, 06:13, Belo Horizonte – Ich erinnere das Foto, das in Ulf Poschardts »DJ-Culture« drin ist (bzw. daher kenne ich es): Goetz trägt die Plattenkiste von Sven Väth. Zehn Jahre später ist Poschardt Chefredakteur der deutschen Ausgabe der Vanity Fair. Dann: »Vanity Fair online präsentiert Rainald Goetz«. Das ist ein bisschen so wie »Slavoj Zizek presents Mao« (Verso, London 2007). – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Ein Kommentar

Kommentar von: A. | 4. Juli 2008: Alles, was man zu Poschardt und Goetz etc. sagen kann, gibt es hier nachzulesen: www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24764/1.html – von Reinhard Jellen.

Freitag, 4. Juli 2008, 10:01, Belo Horizonte – Ich rufe bei der Jungle World an: »Ja, ich weiß nicht. Soll ich nicht lieber allgemein über Blogs schrei­ben? … Aber nicht bis nächste Woche … Okay.« Fünf Minuten später rufe ich noch einmal an: »Nee, ich mache doch etwas über Goetz’ ›Klage‹.« In der FAS gibt es einen riesigen Artikel über das Ende des Blogs. Pro und Con­tra. Nicht nur die Frage: Was schreibt man über Goetz, sondern auch die Frage: Wie schreibt man über Goetz. Und natürlich die Frage: Warum schreibt man über Goetz. Jungle World: »Die von der FAS finden den gut.« Kurze Pause. »Und wir auch.« – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Samstag, 5.Juli 2008, 19:06, Belo Horizonte – Noch immer: Kater. Klage: www.vanityfair.de/extras/rainaldgoetz/– Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Samstag, 5.Juli 2008, 23:02, Belo Horizonte – Insbesondere diejenigen, die zunächst gar nicht mal ablehnend, sondern eher unbeholfen und überfordert der Computer- und Netztechnologie gegenüber standen, neigen neuerdings dazu, Phänomene wie das postulierte Web 2.0 als emanzipatorische Technik zu verabsolutieren. Jetzt, wo auch sie Spuren im WWW hinterlassen können, denken sie: a) das sei wichtig, b) sie seien wichtig, c) ihre Meinung über das Internet sei wichtig. Und die fällt deshalb positiv aus. Grotesk: Ein Professor für Medienphilosophie (was immer das auch sein soll) schreibt in seinem von einer Hilfskraft eingerichteten Blog, welche demokratischen Möglichkeiten das Web 2.0 bietet. Gleich der dritte Kommentar ist von der einer Person, die ruckzuck den Bogen von der Freiheit zu bloggen zu rassistischen Ressentiments und antisemitischen Verschwörungs­theorien bekommt. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Sonntag, 6. Juli 2008, 10:15, Belo Horizonte – Was schreibt denn Goetz diesmal überhaupt? Worum geht’s? Um den »Schwachsinn der Promiwelt«. Also um genau die Belanglosigkeit, für die die Vanity Fair programmatisch steht; Poschardt jedenfalls. Aber wenn ein deutscher Schriftsteller, der Goetz ja nun einmal ist, darüber schreibt, im Netz, für Vanity Fair, dann ist es etwas anderes. Bemerkenswert ist nämlich, wie Goetz sich von Text zu Text, von Buch zu Buch, von Projekt zu Projekt und von Bühne zu Bühne, von Feuilleton über Theater über Dancefloor über Cyberspace bis Blog-Account immer weiter von sich wegschreibt. Einfach gesagt: Am Anfang schreibt er über sich – gegen sich. Jetzt schreibt er so allgemein wie nur möglich über »Promis« – ja, für sich. Für wen? Für alle? »Abfall für alle 2.0«? »Abfall für wenige« nannte es die FAZ. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Montag, 7. Juli 2008, 09:16, Belo Horizonte – Es ist ein äußerstes Vergnügen, Goetz zu lesen. Ist das Blog eigentlich eine literarische Form? Im Prinzip schon, aber bloggt Goetz denn wirklich? Zum Blog gehört die Kommentarfunktion. Die gibt es bei bei Goetz nicht. Die Uhrzeit fehlt. Es gibt auch keine Links in den Texten, keine Querverweise, keinen Hypertext. Streng genommen ist das also nicht Web 2.0 – und nicht einmal wirklich Web 1.0. Es ist, einmal mehr, ein typisches Tagebuch. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Dienstag, 8. Juli 2008, 15:10, Belo Horizonte – »Beim Heben des Kopfes wird der Dunkelraum sichtbar, den ich in letzter Zeit in verschiedene Richtungen hin auszumessen ­versucht habe, notiert Kyritz, vielleicht ver­geblich.« Damit fängt Goetz an (1. Feb. 2007), bzw. lässt er sein Alter Ego, das fortan immer wieder auftaucht, schreiben: Kyritz. Fast ein Nickname. Das ist vielleicht der größte Widerspruch beim Blog als Form: die Hierarchie und Linearität. Eigentlich lässt das Blog es zu, dass man – und zwar ohne Verirrungen – einen Text rückwärts, von hinten nach vorne liest. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Ein Kommentar

Kommentar von: A. | 9. Juli 2008: Übrigens »beim Heben des Kopfes«: statt Sidebar am Rand drei Bilder. Das dritte ist Holbeins »Leichnam Christi im Grabe«, 1521/22, eigentlich ein extremes Querformat, hier auf den Kopf gestellt im extremen Hochformat. Es war 2006 in Basel zu sehen. »Von Holbeins Bild geht, formuliert am Leiden und Sterben des Menschensohns, ein unüber­hörbarer Appell aus, der eigenen Sterblichkeit eingedenk zu sein. Die Einsamkeit Jesu, der mit nicht geschlossenen Augen in der Grabnische zurückgelassen wurde, unterstreicht die noch. Gleich­zeitig verkündet dies Bild des toten Christus jedoch auch Hoffnung, ja Heilsgewissheit.« (Bernd W. Lindemann, Katalog, S. 259)

Mittwoch, 9. Juli 2008, 00:41, Belo Horizonte – Ein Jahr später, 1. Feb. 2008, schreibt Goetz: »Die Kanzlerin kam mit Ole von Beust und Finanzstaatssekretär Diller um 11 Uhr, wie angekündigt, ins westseitige Foyer des Bundeskanzleramts, um der so genannten Öffentlichkeit die neue 2-Euro-Gedenkmünze HAMBURG vorzustel­len … Dank für die Aufklärung, da hamwa alle was gelernt.« Ja, ist das jetzt so? Wo bleibt denn da die Klage? – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Donnerstag, 10. Juli 2008, 14:06, Belo Horizonte – Theodor W. Adorno: »Gegenstand des Essays jedoch ist das Neue als Neues, nicht ins Alte der bestehenden Formen Zurückübersetzbares. Indem er den Gegenstand gleichsam gewaltlos re­flektiert, klagt er stumm darüber, dass die Wahr­heit das Glück verriet und mit ihm auch sich selbst; und diese Klage reizt zur Wut … « Was un­terscheidet Goetz’ noch unbeholfen-technizistisch »Online-Tagebuch« genannte Sammlung »Abfall für alle« von dem Blog-Tagebuch »Klage«? Antwort: Er hat, indem er das Blog als Blog überwindet oder ignoriert, diesen von einer technischen zur literarischen Form erhoben und damit sich selbst einmal wieder als Autor vom bloßen Schreiber, vom schlichten Blogger nämlich, emanzipiert. Rainald Goetz ist ein hervorragender Autor. Aber er ist eigentlich kein Autor. Er macht das Blog dicht, aber er spricht nicht mehr. Die letzten Worte lauten: »Es sind alle herzlich eingeladen. KLAGE feiert Abschied«. Das war am: Samstag, 21. Juni 2008, Berlin, Oranien­straße 189, 22 Uhr. »It’s over – let’s dance«. Das macht mal schön, ihr tollen Menschen. – Abgelegt unter Freispreche | R.B. | Kein Kommentar

Rainald Goetz schrieb 1998 das erste große deutschsprachige Blog, das damals noch unter dem Genrebegriff Internet-Tagebuch firmierte und 1999 bei Suhrkamp unter dem Titel »Abfall für alle« als Buch veröffentlicht wurde. Seit Februar 2007 schrieb er auf der Website der deutschen »Vanity Fair« unter dem Titel »Klage« ein Weblog, das mit den Konventionen des Genres zu brechen und an literarische Traditionen anzuknüpfen versuchte. So umging Goetz die Ich-Form, indem er die Figur des Kyritz einführte. »Klage« erscheint im Oktober bei Suhrkamp.