Auf der Suche nach der Mittelschicht

Finden Sie die Mitte!

Sind Sie noch Mittelschicht oder schon Hartz IV? Die vermeintlichen Garanten gesellschaftlicher Stabilität werden immer seltener.

Es waren um die 5 000 Menschen, die sich vor der Agentur für Arbeit in Berlin-Kreuzberg schubsten und drängelten. »Szenen wie bei einem Rockkonzert« beobachtete der Tagesspiegel und schrieb am Tag danach: »Der Ordner ruft: ›Bitte machen Sie Platz!‹ Doch die Leute drängen sich bis zur Straße, es werden immer mehr. Die ersten waren um 14 Uhr da, bis 21 Uhr sind es über 5 000, die aber nicht zu einem Konzert wollen. Sie wollen einen Job.« Deshalb nahmen sie an der Jobbörse von O2-World teil, die im Juni stattfand.
»Immer mehr Menschen arbeiten zu Niedrig­löhnen.« Das verkündete die Berliner Zeitung im April und berief sich auf eine Studie der Universität Duisburg-Essen, derzufolge bereits jeder und jede Fünfte in der Bundesrepublik gering bezahlt wird. Betroffen seien insbesondere Frauen, junge Leute, Migranten und Mini-Jobber. Noch auf der Suche nach einem schlecht bezahlten Job waren jene 5 000 Menschen, die sich für einen Job bei der O2-World bewarben – und denen eine Tätigkeit beim Wachschutz, in der Gebäudereinigung oder beim Cateringservice als verheißungsvolle Chance erschien.

Mancher mag denken, Szenen wie die vor der Ber­liner Arbeitsagentur mögen sich unter den wirk­­lich Armen in dieser Gesellschaft abspielen, unter den Unqualifizierten, die irgendwann die Hauptschule abgebrochen haben und dazu verdammt sind, sich als Security-Mitarbeiter, mit Brötchenschmieren oder Bettenmachen durchs Leben zu schlagen. Außerdem betrifft das nur ­einen kleinen Teil der bundesdeutschen Bevöl­kerung, denkt mancher weiter, die Mehrheit ­gehört glücklicherweise noch zur Mittelschicht. Doch wer oder was ist die »Mittelschicht«?
Per Definition, über die allerdings gestritten wird, gehören die freien Berufe dazu, also Ärzte, Steuerberater, Physiotherapeuten und alle diejenigen, die in der Weiterbildung beschäftigt sind, freiberufliche Lehrer also und freiberufliche Hoch­schuldozenten, sowie alle Mitarbeiter in kleinen und mittleren Unternehmen. Auch Friseurinnen beispielsweise, die in diesem typischen Frauenberuf von morgens bis abends auf den Bei­nen sind, sich Allergien zuziehen und damit – das teilte die Bundesagentur für Arbeit 2007 offiziell mit – in Sachsen auf einen Bruttolohn von sage und schreibe 615 bis 755 Euro kommen. Damit stehen sie aber immer noch besser da als diejenigen Wissenschaftler, die an der renommier­ten Humboldt-Universität zu Berlin Seminare anbieten, dafür überhaupt nichts bekommen, sich aber glücklich schätzen dürfen, ihren Lebensläufen einen sexy topic hinzufügen und auf bessere Zeiten hoffen zu können.
Nun ja, das sind Geisteswissenschaftler und die stehen nicht hoch im Kurs. Das wird man sich auch bei der Berliner Sprachschule Iberika gedacht haben, die im Mai dieses Jahres einen Deutsch­lehrer für elf Euro Honorar pro Stunde suchte. Brutto. Mit einberechnet war da schon die Vor- und die Nachbereitungszeit, die jede Unterrichtsstunde erfordert.

Das Handwerk aber, hat das nicht goldenen Boden? Der Stellenmarkt des Berliner Boulevardblatts BZ bietet derzeit 9,11 Euro brutto pro Stunde für Elektriker und 11,05 Euro für Malergesellen. »Stimmt«, sagt Manuel P.: »Ich bekomme immer entweder neun oder zehn Euro brutto.« Der gelernte Schiffbauer aus Spanien hat sich nach langer Arbeitslosigkeit entschlossen, noch ein Studium aufzunehmen und sich seinen Lebensunterhalt durch Studentenjobs zu verdienen, die die studentische Arbeitsagentur »Heinzelmännchen« vermittelt. Die mittelständischen Be­triebe, in die er vermittelt wird, sind entzückt: Sie haben einen Studenten angefordert und einen Allroundhandwerker mit Berufserfahrung bekommen. Viele kleine und mittlere Handwerksbetriebe arbeiten schon lange mit reduzierter Stammbesetzung, bei einer günstigen Auftragslage greift man auf flexible Studenten zurück. »Die Leute, die fest in diesen kleinen Firmen arbeiten, bekommen nach meinen Erfahrungen auch nicht mehr als ich«, sagt Manuel P. »Und weil sie keine Studenten sind, gehen bei ihnen noch die ganzen Abzüge weg.«
Moderne Dienstleistungen aber, arbeitet dort nicht die Mitte der Gesellschaft, und zwar zu besseren Bedingungen? Mattias B. ist einer von 80 Mitarbeitern in einer Hamburger Firma, einem Dienstleister zwischen Pharmaindustrie und Krankenhäusern, der Patientendaten digitalisiert. »Eine Probezeit hatte ich nicht«, sagt der gelernte Computerfachmann, »weil ich erst mal nur zwei konsekutive Halbjahresverträge hatte. Danach wurde ich fest eingestellt.« Mattias B. bekam für seine Arbeit lange Zeit 2 000 Euro brutto, davon bleiben einem Ledigen ohne Kinder rund 1 250 Euro im Monat. »Jetzt ist es etwas besser«, sagt er. »Das heißt, ich habe meine Arbeitszeit reduziert und verdiene immer noch dasselbe.«
Und wie sieht es im Süden aus? In Bayern oder in Baden-Württemberg? Im idyllischen Freiburg arbeitet Thomas H. mit drei anderen in einer selbstverwalteten Druckerei, einem Überbleibsel der Alternativbetriebe, die in den achtziger Jahren entstanden. Der Lohn für die immerhin qualifizierte Arbeit ist bescheiden, elf Euro pro Stunde, liegt unter Tarif und erinnert an die Hochzeiten kollektiver Selbstausbeutung im Alternativsektor. »Wir spüren den ständigen Termindruck, wachsende Ansprüche an die Qualität und ganz besonders den Konkurrenzdruck durch die Internetdruckereien«, erklärt Thomas H. Trotzdem arbeitet er lieber in seiner Druckerei als in einem normalen Betrieb: »Immerhin haben wir kollektive Strukturen, nette Kunden, einen schönen Standort und eher mehr Urlaub als weniger.«

1 250 Euro netto in Hamburg, elf Euro Stundenlohn in Freiburg, davon kann man leben, wenn sich das in Hamburg oder Freiburg auch schwieriger gestaltet als in Mecklenburg-Vorpommern, wo man wiederum von einem solchen Lohn nur träumen kann. Es reicht aber nicht, um andere noch mitzuversorgen: eine Lebensgefährtin, ein Kind oder einen alten Vater. In dem Zustand, dass man so eben noch für sich allein sorgen kann – man beachte die steigende Zahl an Single-Haushalten und die niedrige Geburtenrate –, dürfte ein Großteil der Bevölkerung angekommen sein. Und eben auch ein wachsender Teil der Mittelschicht, von der es heißt, dass rund 70 Prozent aller Beschäftigten zu ihr gehören und 80 Prozent aller Auszubildenden.
»Liberale Mittelstandspolitik zielt auf die Leistungsfähigkeit der kleinen und mittleren Betriebe«, heißt es bei der FDP, die die Lohnnebenkosten senken möchte. Was den mittelständischen Unternehmen gefällt, macht die Mittelschicht nur ärmer. Auch die Linkspartei, die die Lohnnebenkosten nicht senken möchte, umwirbt die mittelständischen Unternehmen, bloß anders.
Menschen, die der Mittelschicht angehören, gelten allen Studien zum Trotz irgendwie noch als Garanten gesellschaftlicher Stabilität. Doch zwischen Mittelschicht und Hartz IV liegt unter Umständen bloß ein Jahr, auch hier gibt es Nullrunden und nagt die Inflation. Die Mittelschicht ist brüchig geworden und Akademiker gehören schon lange nicht mehr automatisch dazu.
Darüber zu klagen, ist, kann man einwenden, insbesondere im Vergleich zu den Lebensbedingungen vieler Menschen in anderen Ländern, Jammern auf hohem Niveau. Auf hohem Niveau sind aber auch die Anforderungen, die an diejenigen gestellt werden, denen – eben weil sie der Mittelschicht angehören – keine Gebühren er­lassen werden.