Afghanistans Läuferin Mehboba Ahdyar ist vor den olympischen Spielen spurlos verschwunden

Den Taliban davongelaufen

Die afghanische Sportlerin Mehboba Ahdyar wird trotz Wildcard nicht in Peking starten. Vermutlich hat die seit einem Monat spurlos Verschwundene in Norwegen Asyl beantragt.

Es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie die Olym­pischen Spiele für die afghanische Mittelstreckenläuferin Mehboba Ahdyar verlaufen wären. Mit großer Wahrscheinlichkeit wäre sie bereits in den ersten Vorläufen über 800 und 1 500 Meter ausgeschieden, Ahdyar war schließlich eigentlich an der Qualifikation für Olympia gescheitert und nur mit einer Wildcard des IOC startberechtigt.
Und trotzdem wäre sie zu einem der Stars der Spiele geworden: Die 19jährige, die grundsätzlich mit Kopftuch, langärmligen Shirts und langen Hosen startete, wäre zur Symbolfigur für das Recht afghanischer Frauen auf Selbstbestim­mung geworden. Schließlich hätte sich Ahdyar auch durch zahlreiche Drohungen von Taliban und Fundamentalisten nicht vom Laufen abhal­ten lassen.
Hätte, hätte, wenn, wenn.
Aber Mehboba Ahdyar wird nicht in Peking star­ten, die Leichtathletin ist seit dem 4. Juli aus dem italienischen Trainingslager verschwun­den.
Als Ahdyar an diesem Tag vermisst gemeldet wurde, befürchtete die italienische Kriminalpolizei zunächst ein Kapitalverbrechen. Die Läu­ferin, die sich mit einem Stipendium des Internationalen Olympischen Komitees in der Nähe von Rom auf die Spiele in Peking vorbereitete, war in der Vergangenheit immer wieder von mus­limischen Fanatikern bedroht worden. Obwohl sie bei Wettkämpfen stets mit Schleier und im hochgeschlossenen Trainingsanzug antrat, warf man ihr »unislamischen Lebensstil« vor, bezeichnete sie als Prostituierte und bedrohte sowohl sie als auch ihre Familie mit Mord.
Und so lag der Verdacht, dass die potenzielle Olympia-Starterin Ahdyar beseitigt wurde, bevor sie in Peking zur weltweiten Symbolfigur für die Rechte afghanischer Frauen werden konnte, zunächst nahe. Bereits nach kurzer Zeit gab die Kripo allerdings Entwarnung, denn mit der jungen Frau waren auch ihr Gepäck und ihre Pa­piere verschwunden, was eine Entführung oder gar einen Mord äußerst unwahrscheinlich machte.
Nach und nach stellte sich heraus, dass ­Ahdyar – mit Hilfe zweier anderer Sportlerinnen – Ita­lien freiwillig verlassen hatte, um in Norwegen um Asyl zu bitten. Mehrere norwegische Me­dien berichteten übereinstimmend, dass Ahdyar dort einen Asylantrag gestellt habe. Angeblich sei dieser jedoch abgelehnt worden. Eine offizielle Bestätigung gibt es allerdings nicht, da das zuständige Außenministerium sich nicht über konkrete Entscheidungen in Einzelfällen äußern darf.
Am 10. Juli erklärte dann IOC-Sprecherin Emmanuelle Moreau zum Fall Ahdyar, das Internationale Olympische Komitee wisse, »dass Ath­leten manchmal glauben, eine harte Entscheidung treffen zu müssen, um ihre Lebensumstän­de zu verbessern. Es hat den Anschein, dass dies auch im vorliegenden Fall geschehen ist.«
Konkret: »Sie wird vermisst. Wir haben keine offiziellen Informationen, wir wissen lediglich, dass sie Asyl in Norwegen beantragen wollte.«
Kurz darauf erlärte jedoch Sayed Mah­moud Zia Dashti, Vorsitzender des afghanischen Olym­pischen Komitees, Ahdyar befinde sich nur in Italien, um eine Verletzung am Bein behandeln zu lassen. Wegen dieser Verletzung sei ein Start in Peking ausgeschlossen. Ihre Familie sei bei ihr und kümmere sich um sie.
Auf einer Homepage, auf der die afghanischen Olympia-Teilnehmer vorgestellt werden, findet sich allerdings immer noch ein Porträt der Läuferin, die mehrfach Morddrohungen erhalten hatte.
Und nicht nur sie. Mutter Moha Jan sagte Anfang des Jahres in einem Interview: »Wir haben sehr große Angst. Aber kein Problem ist groß genug, um uns davon abzuhalten, Mehboba zu unterstützen.«
In einem Interview mit Radio Free Afghanistan sprach auch die Sportlerin selbst, nur einen Tag vor ihrem Verschwinden, über Drohungen und Ängste. Sie sei sehr besorgt, sagte sie, vor allem, weil sie nicht wisse, was sie nach ihrer Rückkehr nach Kabul erwarte.
Die Taliban hatten Frauen zwischen 1996 und 2001 generell jede sportliche Betätigung verboten, diese Vorschrift gilt nun offiziell nicht mehr. Konservative Kleriker halten Frauen­sport allerdings für »unislamisch«, selbst wenn die Sportlerinnen in hochgeschlossenen Outfits antreten.
Eine Sichtweise, die vor allem afghanische Männer oft teilen: Im Radiointerview berichtete Ahdyar, bei ihrem letzten Aufenthalt in Kabul habe sie »viele anonyme Drohanrufe erhalten, die Anrufer sagten, ich solle den Sport aufgeben«. Selbst Nachbarn hätten ganz offen Drohun­gen ausgesprochen, sagte Mehboba, deren Vater einmal kurzfristig entführt und unter Druck gesetzt worden war.
Die aus einem der ärmsten Bezirke Kabuls stammende Vorzeigesportlerin ließ sich in der Vergangenheit allerdings durch keinerlei Widerstände von ihrem Recht auf Sport abbringen und lebte im Gegenzug mit einem beträchtlichen Sicherheitsrisiko. Denn nicht nur Fundamentalisten bedrohten die junge Frau, auch für ganz gewöhnliche Kriminelle wurde sie als mögliches Entführungsopfer zunehmend interessant, da auch in Afghanistan – wenn auch im internationalen Maßstab mit 1 000 Dollar extrem bescheidene – Prämien für Rekorde gezahlt werden.
Angefangen hatte alles eher als Hobby: Mit 15 Jahren war Ahdyar zunächst bei Straßenrennen gestartet, zu diesem Zeitpunkt, im Jahr 2004, hat­ten mit der 100-Meter-Läuferin Robina Muqi­myar und der Judoka Friba Razayee zum ersten Mal afghanische Frauen an Olympischen Spielen teilgenommen. 2006 wechselte Ahdyar dann zu den Mittelstrecken und erwies sich als Talent: Bereits ein Jahr später hatte sie die bestehenden Landesrekorde über 800 und 1 500 Meter ge­bro­chen, allerdings lagen ihre Bestleistungen rund eine Minute über den jeweiligen Weltrekorden.
Trotz nicht erreichter Qualifikation erhielt Mehboba Ahdyar das Startrecht für Peking. Dass ihr Start dort von einem Funktionär nun so vehement ausgeschlossen wurde, könnte auch daran liegen, dass ihr entgegen norwegischen Presseberichten Asyl gewährt wurde – ein Wech­sel der Staatsbürgerschaft führt beispielsweise zu einer automatischen Sperre für internationale Wettkämpfe.
Ein Reporter von Radio Free Europe versuchte in den vergangenen Tagen herauszufinden, wo sich Ahdyar aufhält. Er hatte keinerlei Erfolg, das IOC antwortete auf seine Fragen nicht, unter der Telefonnummer des afghanischen Olympischen Komitees war niemand zu erreichen.
Mehboba Ahdyar hat sich, vermutlich, für ein Leben in Sicherheit und gegen den kurzfristigen Ruhm als afghanische Ikone für Frauenrechte entschieden.
Vielleicht weil sie wusste, wie es einer ihrer Vorgängerinnen erging: Vor vier Jahren, bei den Spielen von Athen, waren die 100-Meter-Läuferin Robina Muqimyar und die Judoka ­Friba Razayee zu Stars geworden. Razayee kehrte anschließend nur für kurze Zeit in ihr Land zurück, bevor sie mit ihrer Familie an einen bis heute unbekannten Ort floh. Die Judo-Kämpferin war von Taliban bedroht worden und einmal von einer ganzen Gruppe unbekannter Männer angegriffen und geschlagen worden. In einem Interview hatte sie gesagt, dass sie sich auch in Athen niemals sicher gefühlt und es des­wegen zum Beispiel vermieden habe, draußen zu trainieren, wo sie ein allzu leichtes Ziel gewesen wäre.