60 Jahre Grundgesetz

Der verwaltete Mensch

Vor 60 Jahren wurde in Oberbayern der Entwurf für das Grundgesetz ausgearbeitet. Die Einschränkung der Grundrechte, die über Jahrzehnte stattgefunden hat, zeigt, dass der Staat nur noch Menschen braucht, die sich nicht verdächtig machen.

»Die Rechtsordnung, die sich die Deutschen 1949 in den Ländern der westlichen Besatzungszonen gaben, hat unserem Land 60 Jahre Frieden und Freiheit gesichert.« Das sagte Günther Beckstein (CSU) beim Festakt zum »Herrenchiemseer Verfassungskonvent«, der aus symbolischen Gründen bereits am Jahrestag des Attentats auf Hitler, dem 20. Juli, begangen wurde. »In der Tat: Unser Grundgesetz wurde zu einem ›Bollwerk der Freiheit‹«, hieß es weiter aus dem Munde des Ministerpräsidenten von Bayern, dem Land, wo Tage zuvor die Einschränkung der Versammlungsfreiheit beschlossen worden war.
Vom 10. bis zum 25. August 1948 tagte auf der Insel Herrenchiemsee der Sachverständigenausschuss für Verfassungsfragen. Der »Herrenchiemseer Verfassungskonvent« stellte dem Parlamentarischen Rat, der verfassunggebenden Versammlung, den Entwurf für eine Verfassung für Deutschland zur Verfügung. Der Entwurf bildete die Arbeitsgrundlage für das 1949 verabschiedete Grundgesetz. Der Konvent, dessen stimmberechtigte Mitglieder Vertreter der Länder der westlichen Besatzungszonen waren, verstand sich als »wissenschaftliche Studiengesellschaft«, die nicht über verfassungspolitische Fragen zu befinden habe. Dennoch prägte die Tagung vor 60 Jahren entscheidend das poli­tische Leben im Nachkriegsdeutschland. Die mit der neuen Verfassung einhergehende Zäsur ermöglichte die Modernisierung Westdeutschlands.
Grundlage der Arbeit des Verfassungskonvents waren die so genannten Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948. Die drei westlichen Militärgouverneure ermächtigten darin die westdeutschen Ministerpräsidenten, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Der Rahmen für die künftige Verfassung war darin bereits ab­gesteckt: Vom neuen Deutschland verlangten die westlichen Besatzungsmächte eine demokratische Verfassung und eine föderalistische Regierungsform. Individuelle Rechte und Freiheiten sollten garantiert werden.
Einer Verfassung, die diesen Anforderungen genügte, stellten die Militärgouverneure ihre Genehmigung in Aussicht. Doch die Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer standen dem Angebot der Militärgouverneure zunächst zurückhaltend gegenüber, da sie befürchteten, mit einer eigenständigen Verfassung der westlichen Besatzungszonen die Teilung Deutschlands zu vertiefen. Um diesen Bedenken entgegenzutreten, machten die Militärgouverneure das Zu­geständnis, den provisorischen Charakter der Verfassung durch die Verwendung des Wor­tes »Grundgesetz« zu unterstreichen. Die dem Grundgesetz vorangestellte Präambel beschränkte die Aufgabe des Grundgesetzes darauf, »dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben«.

So war es gerade der offene Charakter des Provisoriums, der für die in den Nachkriegsjahren nötige Flexibilität und somit für den Erfolg der Verfassung sorgte. Was die Grundrechte betraf, empfahl der Verfassungskonvent eine scharfe Begrenzung auf einklagbare, nachvollziehbare Freiheitsrechte. Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung sollte das künftige Verfassungsrecht nicht aus bloßen Bekenntnissen und Programmsätzen bestehen, sondern die Freiheitssphäre der Bürger gegenüber dem Staat wirksam abstecken und im Übrigen Zurückhaltung walten lassen.
Der Sozialdemokrat Carlo Schmid, der sowohl dem Herrenchiemseer Konvent als auch später dem Parlamentarischen Rat angehörte, verlangte die Schaffung von Grundrechten, die »nicht bloß Deklamationen, Deklarationen und Direktiven sind, (…) sondern unmittelbar geltendes Bundesrecht, auf Grund dessen jeder einzelne Deutsche (…) vor dem Gericht soll Klage erheben können.« Deshalb trat der Herrenchiemseer Konvent für die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts ein. Der Vorschlag des Konvents, diesem Gericht die Rolle als »Hüter der Verfassung« zu übertragen, wurde später vom Parlamentarischen Rat übernommen. Der effektive Schutz der Grundrechte, die Abwehr staatlicher Eingriffe in die Sphäre der Bürger, konnte dank dieses »Sondergerichts« garantiert werden. Man verstand die Grundrechte als unmittelbar verbindliche Rechtsnormen, die die staatliche Gewalt begrenzten und verpflichteten. Der Grundrechtskatalog der neuen Verfassung wurde den organisatorischen Bestimmungen vorangestellt, und die Achtung der Menschenwürde sollte den ersten Rang einnehmen.

Diese schönen Worte verleiten freilich dazu, einem der Gründungsmythen der BRD aufzusitzen: dem eines Nachkriegsdeutschlands, das um seine moralische Verantwortung weiß und im Angesicht von Leichenbergen den Schutz der Menschenwürde an die erste Stelle seiner neuen Verfassung setzt. Die staatliche Selbstverpflichtung, individuelle Grundrechte zu wahren, wird als freiwillige Selbstkontrolle geläuterter staatlicher Macht dargestellt – und dient so als ideologisches Hintergrundrauschen eines kapitalistischen Modernisierungsprozesses.
In der vorherrschenden idealistischen Lesart entspringen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz allein der humanistischen Tradition und sind wirtschaftspolitisch neutral. In beeindruckender Naivität behauptete auch das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung: »Ein bestimmtes Wirtschaftssystem ist durch das GG nicht gewährleistet.« So sollte durch das Grundgesetz vorgeblich keine bestimmte Wirtschaftsordnung festgelegt werden, sondern diese offen der Ausgestaltung durch den demo­kratischen Prozess überlassen werden.
In den mythischen Erzählungen über die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes wird deshalb häufig die Gefahr für die freiheitliche Ordnung beschworen, die seinerzeit von den Gewerkschaften ausgegangen sei. So machten am Rande des Verfassungskonvents Vorstellungen von korporativen Grundrechten, gemeinsam auszu­übenden Grundrechten, die Runde. Der Deutsche Gewerkschaftsbund forderte damals eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Streikrechts, eine Garantie der betrieblichen und überbetrieb­lichen Arbeitnehmermitbestimmung, die Beteiligung der Gewerkschaften an den zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen sowie eine »zwingende Vorschrift zur Sozialisierung der Schlüsselindustrie«. Gewerkschaften stärker als kollektives Subjekt des Rechtslebens begreifen zu wollen, rief postwendend den Einwand hervor, dadurch die Wirtschaftsordnung bereits festzulegen. Unter Verweis auf den provisorischen Charakter des Grundgesetzes konnten diese Begehrlichkeiten leicht abgewehrt werden. Allein klassische Individualrechte sollten vor staatlichen Eingriffen schützen und die Freiheitssphäre der Bürger garantieren. Denn das Grundgesetz sei neutral.

Somit gelang es den Vätern des Grundgesetzes, einen Modernisierungsprozess in Gang zu setzen und dies zugleich zu leugnen. Das mit nationalsozialistischer Sklavenarbeit angehäufte konstante Kapital lieferte eine Grundlage für das so genannte Wirtschaftswunder. Eine weitere war die Schaffung einer modernen Staatlichkeit, die den Bürgern effektive wirtschaftliche Betätigungsmöglichkeiten gewährte und mit der sich die moralisch Geläuterten identifizieren konnten. Die von Rechts wegen garantierte Freiheit, die Nichteinmischung des Staates in das Leben seiner Untertanen, ist die Fortsetzung des Marktes auf personaler Ebene. Soll sich das Wertgesetz realisieren, bedarf es der Warenhüter, die in ihrer Freiheit die Gesetze des Marktes in die Tat umsetzen, ohne dass es zur Beeinträchtigung ihres freien Willens durch konkurrierende Bürger oder den Staat käme. In subjektiver Selbstbestimmung realisiert sich objektiver Zwang. Karl Marx brachte dies einst auf den Punkt: »Die Gesetze der Warennatur betätigen sich im Natur­instinkt der Warenbesitzer.« Personale Herrschaft ist dann unerträglich, wenn die apersonale des kapitalistischen Systems walten soll. Das ist der Hintergrund der Grundrechte: die Abwehr staat­licher Eingriffe in die Freiheit und der private Schutz vor Gewalt durch Konkurrenten. Hiervon durfte man vor 60 Jahren freilich nicht sprechen, wollte man das Projekt der moralischen Wiederaufrüstung Deutschlands nicht gefährden.
Eine andere Art der Wiederaufrüstung machte bald die ersten gravierenden Änderungen der Verfassung nötig. Während der Entwurf des Herrenchiemseer Konvents noch einen Passus über die Wehrhoheit enthielt, verzichtete der Parlamentarische Rat darauf. Im Grundgesetz war also zunächst keine Zuständigkeit des Bundes für Verteidigungsangelegenheiten vorgesehen. Die Wiederbewaffnung der BRD wurde 1954 mit einer Grundgesetzänderung begonnen. Der Bund erhielt die Zuständigkeit für Verteidigungsangelegenheiten und sollte die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich regeln.
Nach Beendigung des Besatzungsregimes und der Aufnahme der BRD in die Nato wurde die Einarbeitung der so genannten Wehrverfassung in das Grundgesetz in Angriff genommen und die allgemeine Wehrpflicht für Männer eingeführt. Um jedoch zu betonen, dass nicht nur die staatliche Verwaltung, sondern insgesamt die staatliche Gewalt der Grundrechtsbindung unterliegt, veränderte man dabei auch Artikel 1 Absatz 3 GG. Der Absatz lautete seither: »Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«
Die Klarstellung, dass auch die militärische Gewalt an die Grundrechte gebunden sei, konnte aber ebenso wenig wie die Einführung eines Kriegsdienstverweigerungsrechts darüber hinwegtäuschen, dass eine Wende in der Entwicklung der BRD eingeleitet war. An der ideologischen Gestalt eines Deutschlands, das allein den Grundsätzen der Humanität verpflichtet sei und auf das herkömmliche Attribut der wehrhaften Staatlichkeit verzichtete, konnte so nicht länger festgehalten werden. Doch zehrte selbst der rechtfertigende Diskurs der ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr Jahrzehnte später noch von der anfänglichen staatstragenden Demut: Gerade weil wir den Menschenrechten verpflichtet seien, müsse die Bundeswehr im Ausland eingesetzt werden.

Grundrechte sind für Staaten natürlich eine zweischneidige Sache. Allein wegen ihrer Form gewähren Grundrechte den Untertanen eine Freiheitssphäre. So verwundert nicht, dass die Grundrechte dann eingeschränkt wurden, als sie in größerem Umfang zu nicht unmittelbar staatsfreundlichen Zwecken in Anspruch genommen wurden.
Einschneidend für die Verfassungsgeschichte waren insoweit die Notstandsregelungen des Jahres 1968. Abgesehen von den Grundgesetzänderungen im Zuge der Wiedervereinigung hat es keinen tieferen Eingriff in das Grundgesetz gegeben als durch das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968. Von den damals 145 Grundgesetzartikeln wurden durch die Notstandsverfassung 28 geändert, aufgehoben oder eingefügt. Im Fall der politischen Ausnahmesitu­ation sollten politische Grundrechte suspendiert werden können. Seitdem können das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden, ohne dass die Betrof­fenen Kenntnis von den staatlichen Maßnahmen (Anhalten und Lesen der Post) erhalten oder eine gerichtliche Überprüfung des Eingriffs möglich ist, wenn die Beschränkung des Grundrechts »dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« dient. Gleiches gilt für das grundrechtlich geschützte Recht auf Freizügigkeit. Im Gegensatz zur ursprünglich individualistisch ausgerichteten Verfassung wurde die Staatsräson entscheidend gestärkt.
In dieselbe rechtspolitische Richtung ging das so genannte Sicherheitspaket von 1972. Dabei wurden – unter anderem – ein Bundeswaffengesetz, eine Änderung des Verfassungsschutzgesetzes und ein neues Bundesgrenzschutzgesetz auf den Weg gebracht. Zudem wurde das Haftrecht verschärft und insoweit die Strafprozessordnung geändert. Auch wenn die Verabschiedung dieser Gesetze vordergründig unter dem Eindruck der Aktivitäten der RAF geschah, gingen die Planungen hierfür weiter zurück. Schon nach den ersten Berliner Studierendenunruhen 1967 hatten die Vorbereitungen zur innenpolitischen Aufrüstung begonnen. Man nahm die Existenz der RAF als willkommenen Anlass, um das »Sicherheitspaket« 1972 zu verabschieden. Zunächst wurden die neuen Gesetze ausgearbeitet, um im Anschluss den Veränderungsbedarf für das Grundgesetz festzustellen und dieses entsprechend zu ändern.
Die entscheidende inhaltliche Änderung war die Erweiterung der Befugnisse des Verfassungsschutzes auf das diffuse Gebiet des »Staatsschutzes« und die Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundesgrenzschutzes (heute Bundespolizei). Dieser sollte nicht mehr nur zur Grenzsicherung an Flughäfen und Bahnhöfen, sondern, weil ein Inlandseinsatz der Bundeswehr nicht vorgesehen war, als paramilitärische Einheit zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden können.

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Als nach der so genannten Wiedervereinigung das letzte Bedürfnis verschwand, sich vor den anderen Staaten als mustergültig resozialisiert zu präsentieren, schaffte Deutschland das Grundrecht auf Asyl ab. 1998 wurde ein weiteres Grundrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung, stark eingeschränkt und mit dem »Großen Lauschangriff« die Verwanzung von Wohnungen rechtlich ermöglicht.
Der Kampf gegen den Terrorismus dient seit der innenpolitischen Aufrüstung Ende der sechziger Jahre als Vehikel für den ständigen Abbau von Grundrechten. Dem Anti-Terrorismusgesetz von 1976 folgten das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus von 1986, das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität von 1992, das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994, das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der organisierten Kriminalität von 1998 mit der Einführung des »Lauschangriffs«, die Terrorismusbekämpfungsgesetze von 2002 und 2003 und das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz von 2006. Bei all dem werden die Grenzen zwischen Polizeiarbeit, Strafverfolgung und Geheimdiensttätigkeit mehr und mehr verwischt. Immer geringere Verdachtsmomente genügen, um in das Visier der Agenturen der sozialen Kontrolle zu geraten. Nicht mehr das Verhalten, sondern die Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus genügt, um als verdächtig zu gelten – und somit umfassende Überwachung dulden zu müssen.
Nur konsequent ist insoweit die so genannte »Vorratsdatenspeicherung«. Ohne jeden konkreten Anlass sollen die Daten der Telekommunikationsverbindungen aller Beteiligten gespeichert wer­den. Die Zahlen der Telekommunikations­überwachung sprachen schon vorher für sich. Polizei und Nachrichtendienste fragten allein im Jahr 2003 3,7 Millionen Verbindungsdatensätze ab. Zu den verdachtsunabhängigen Eingriffen ist schließlich die Überwachung öffentlicher Räume ohne Anlass zu rechnen. Auf der Straße kann die Polizei im Rahmen der Schleierfahndung mitt­lerweile die Identität beliebiger Personen feststellen und die mitgeführten Sachen durchsuchen. Wer durchsucht wird, bleibt der Polizei überlassen. Zuletzt war so etwas nach dem Preußischen Polizeigesetz von 1851 zulässig – allerdings erst nach Ausrufung des Belagerungszustands.

Eine materialistische Kritik der Einschränkung der Grundrechte hat sich dabei vom liberalen Gejammer über den Untergang einer Rechtskultur abzusetzen. Die Abkopplung der Überwachung vom Verhalten der Betroffenen spricht dafür, dass sich auch der Regelungsgegenstand des Rechts geändert hat. Benötigte die BRD in ihren Anfängen noch emsige Bürger, die den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau vorantrieben, scheint dieses Bedürfnis heutzutage historisch überholt zu sein. An die Stelle des Bürgers des »Wirtschaftswunders« ist der überflüssige und verwaltete Mensch getreten. Für ihn, der die Gesetze der Warennatur ohnehin nicht mehr umsetzen kann, gilt nur noch, sich nicht verdächtig zu machen.