Frau Dr. Psycho

Wer Bücher, auf denen fett das Label »Frauenkrimi« prangt, meidet, macht keinen Fehler, schließlich wird inzwischen jeder Kriminalroman, der von einer Frau geschrieben wurde, unter diesem Oberbegriff einsortiert, und es wimmelt nur so von stereotypen Heldinnen, die als erfolgreiche Journalistinnen, Anlageberaterinnen oder auch Mütter leben, bis eines Tages Bedrohliches passiert. »Ohne eine Spur« der irischen Autorin Mary Stanley kommt ohne die­ses Etikett aus, obwohl das Buch alles enthält, was einst die Qualitäten des Genres ausmachte, nämlich einen Haufen Psychologie und feine Charakterzeichnungen.
Im Dublin der Sechziger ist die 18jährige Klos­terschülerin Bella plötzlich verschwunden.Das Elternhaus hatte die gegängelte Bella wie ihre beiden Schwestern nur mit elterlicher Genehmigung verlassen dürfen, um nachmittags Freun­dinnen zu besuchen. Wohin und warum Bella, Musterschülerin und Mustertochter einer Musterfamilie, verschwunden ist, weiß niemand. Dass sie eine geschickte Intrigantin war, die alle um sich herum für ihre Zwecke manipulierte, ahnt nur Becky, ihre jüngere Schwester. Die Aus­wirkungen von Bellas Verschwinden auf die Familie und Beckys Versuche, die Wahrheit herauszubekommen, stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Die Autorin ging selbst in eine irische Klosterschule und kennt den herzlosen Drill, mit dem die Nonnen in das Privat­leben ihrer Schützlinge hineinregieren. Das merkt man ihrem äußerst packend geschriebenen Roman an.

Mary Stanley: Ohne eine Spur. Droemer/Knaur, München, 486 S., 8,95 Euro