Georgien als Schauplatz der »neuen Kriege« dieser Zeit

Geopolitik über die Bande

Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung entsteht ein Geflecht aus geopolitischem Großmachtstreben und asymmetrischen wirtschaftlichen, politischen und religiösen Interessen lokaler Oligarchen. Ist der Krieg in Georgien eine Vorschau auf die Struktur der »neuen Kriege« dieser Zeit?

Die Reise war ein Alptraum für die Sicherheitsberater und nur mit der Panik zu erklären, die viele ehemalige Ostblockstaaten erfasst hat. Gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski trafen die Regierungschefs der drei baltischen Staaten am Dienstag vergangener Woche in Tiflis ein, um Georgien ihrer Solidarität angesichts der »russischen Aggression« zu versichern. Unterwegs nahmen sie in Kiew noch den ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko mit. Ein Attentat oder eine verirrte Rakete über dem Kriegsgebiet hätte auf einen Schlag fünf Staatsoberhäupter gefährdet.
Solche Sicherheitsbedenken erschienen den osteuropäischen Politikern banal angesichts viel größerer Ängste, die das Auftreten Russlands im südlichen Kaukasus bei ihnen provozierte. »Heute Georgien, morgen dann die Ukraine, die baltischen Staaten und Polen«, erklärte der Sprecher des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski die Motive für die Reise.

Dass russische Panzer demnächst vor Riga oder Warschau auftauchen, ist nun nicht gerade wahrscheinlich. Alarmierend für die osteuropäischen Staaten ist es dennoch, dass Russland zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion in ein anderes Land einmarschierte – und der Westen außer moralischer Empörung nicht viel dagegenzusetzen hat. Und selbst die litauische und die polnische Regierung kritisieren diese Proteste als halb­herzig: Während sich die USA zumindest verbal umgehend mit Georgien solidarisierten und Russ­land ernsthafte Konsequenzen androhten, ver­mieden insbesondere Deutschland und Frank­reich einseitige Schuldzuweisungen.
Plötzlich tut sich die schon fast vergessene Kluft zwischen dem »alten« und dem »neuen Europa« erneut auf. In einem Interview mit der polnischen Zeitung Rzeczpospolita kritisierte Präsident Kaczynski, dass die Entscheidungen der EU in der Georgien-Krise »zwischen Berlin und Paris« getroffen worden seien. »Die Rede von einer gemeinsamen EU-Politik gegenüber Russland ist lächerlich. Wie soll diese Politik sein? Nachgiebig?« fragte Kaczynski. Die Einstellung Frankreichs und Deutschlands ergebe sich aus »historischen Erfahrungen und Interessen der Wirtschaftsunternehmen«, die in Russland das »große Geld« verdienen wollten, sagte er. Fast wie aus Trotz stimmte Polen am Wochenende dann der Stationierung des US-Raketenschildes zu – ein klares Zeichen dafür, dass die polnische Regierung im Zweifelsfall eher auf die USA als auf ihre westlichen Nachbarn vertraut.
Das »alte Europa« hat schließlich durchaus Gründe, vorsichtig zu sein. Seine Energieversorgung ist in hohem Maße von Russland abhängig, dessen Wohlwollen man bei diversen Konflikten von Iran bis nach Darfur benötigt. Jahrelang konnten Europäer die Stimmung in der russischen Regierung ignorieren. Bei dem Krieg gegen Serbien blieben die russischen Proteste ebenso wirkungslos wie bei der Anerkennung des Kosovo.
Das ist nun vorbei. Wegen der enormen Gewinne durch steigende Energiepreise fühlt sich Russland nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch wieder in der Lage, seine Interessen offensiv wahrzunehmen. Dazu gehört vor allem, das so genannte nahe Ausland unter Kontrolle zu bringen. Vor allem die zunehmende Ost-Ausdehnung der Nato wirkt auf den Kreml extrem bedrohlich. Vor dem Nato-Gipfel im Frühjahr in Buka­rest reagierte die russische Regierung schon fast hysterisch auf einen möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens.

Mit seinem aggressiven Vorgehen in Südossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es künftig nicht mehr klein beigeben will, wenn es seine Belange gefährdet sieht. Es ist auch ein Indiz dafür, dass die Zeiten der vielgeschmähten Unipolarität, in denen die USA die einzige Supermacht waren, vorbei sind. Robert Kagan, einer der bekanntesten Theoretiker der Neokonservativen und Unterstützer von US-Präsidentschaftskandidat John McCain, bezeichnete vergangene Woche in der Washington Post den Krieg gegen Georgien sogar als einen Wendepunkt der Geschichte, »nicht weniger bedeutsam als der 9. November 1989, als die Berliner Mauer fiel«. Seiner Ansicht nach bedeutet die russische Invasion die »offizielle Rückkehr der Geschichte zu einem Wettkampf großer Mächte, fast im Stile des 19. Jahrhunderts, voller nachdrücklicher Nationalismen, Kämpfe um Einflusssphären und Territorien, und sogar mit dem Einsatz militärischer Macht zum Erreichen geopolitischer Ziele«.

Dabei hatte sich die Welt gerade an die so genannten asymmetrischen Kriege gewöhnt. Spätestens nach dem 11. September 2001 erklärten fast alle führenden Militärs, dass die Zeit territorialer Auseinandersetzungen zwischen souveränen Staaten vorbei sei. In diesen neuen Kriegen würden nicht mehr konventionelle Armeen, sondern islamistische Terrorgruppen und lokale Warlords dominieren.
So gesehen erscheint der Konflikt zwischen Russland und Georgien tatsächlich wie ein Relikt aus einem vergangenen Jahrhundert. Nach zahllosen Provokationen ging der autokratisch regierende Präsident Georgiens, Michail Saakaschwili, offenbar davon aus, mit einem schnellen Feldzug die separatistische Region Südossetien besetzen zu können. Die georgische Armee wurde in den vergangenen Jahren unter anderem auch – unter dubiosen Umständen – mit deutschen Waffen hochgerüstet und zum Teil von US-Ausbildern trai­niert: Der Militäretat des kleinen Landes stieg in den vergangenen fünf Jahren von 20 Millionen auf 1,5 Milliarden Dollar.
Dass seine Truppen bereits nach zwölf Stunden wieder aus Zchinwali flüchten mussten, lässt darauf schließen, dass die russische Armee nur auf einen solchen wahnwitzigen Angriff gewartet hatte. Anschließend rückten russische Einheiten auf georgisches Territorium vor und lassen seitdem – trotz eines Waffenstillstandes – keinen Zweifel daran, dass sie dort nach Belieben handeln können.
Für Kagan weist dieses Vorgehen auf künftige Konflikte hin, die in der künftigen multipolaren Weltordnung drohen. In Zukunft spielen seiner Meinung nach wirtschaftlich erfolgreiche Staaten wie Russland oder China eine wesentlich größere Rolle. Diese Länder könnten ihre autoritäre Politik mit Massenkonsum und kultureller Freizügigkeit verbinden: Der Kapitalismus funktioniere auch gut ohne Menschenrechte. Der Schrecken des vergangenen Jahrzehnts, der islamistische Fundamentalismus, stellt für Kagan hingegen nicht viel mehr als eine Art Rückzugsgefecht perspektivloser reaktionäre Mächte dar.
Dass sich diese Entwicklung nicht so linear voraussagen lässt, wie es Kagan macht, zeigt sich allerdings in Südossetien. Dort vermischen sich, ähnlich wie im benachbarten Abchasien oder im moldauischen Transnistrien, geopolitische Interessen und asymmetrische Strukturen. In diesen Ländern, die es eigentlich gar nicht gibt, haben Clan- und Bandenchefs das Sagen, während es für die verarmte Bevölkerung vermutlich kaum eine Rolle spielt, zu welchem Staat sie gehört. In Südossetien sind rund 60 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, während eine kleine Clique, die gute Verbindungen zur russchischen Regierung unterhält, vom Schmuggel, Waffen- und Drogenhandel profitiert. So schätzt der russische Zoll den Wert der geschmuggelten Waren in Südossetien auf eine halbe Milliarde US-Dollar – bei einer Bevölkerung, die gerade so groß wie die von Paderborn ist. Und in den russischen Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien oder Tschetschenien warten lokale Clans und islamistische Gruppen nur darauf, ihre eigenen kleinen Reiche zu errichten.
Gut möglich also, dass die Tage der unipolaren Weltordnung gezählt sind, während die Konflikte aus dieser Zeit weiterhin bestehen bleiben. Sicher scheint daher nur eins: Die neue multipolare Ära wird kaum friedlicher sein als die alte Ordnung.