Krebs als Chance
Der Studienkreisleiter Hendrik März thront selbstgewiss am Kopfende des Tisches. Vor allem ältere Anhänger haben sich an diesem Abend im August im Hinterzimmer der Berliner Gaststätte »Stammtisch« versammelt, um seinen Ausführungen zu folgen. Wenn man die »Germanische Neue Medizin« zulasse, verändere sich auch die gesellschaftspolitische Sicht, befindet März und erntet zustimmendes Raunen. Schließlich wird er deutlicher und glaubt dabei nach eigenem Bekunden, »Ross und Reiter beim Namen« zu nennen: Schuld an der Misere sind für ihn »die Juden«.
Die nötigen Massen für die mehrfach beschworene »Korrektur der Gesellschaft« sind an diesem Abend nicht zusammengekommen, insgesamt sind es nicht einmal 15 Personen. Ob es sich um Patienten handelt? Hendrik März bietet ganz in der Nähe der Gaststätte seine Dienste als »Heilpraktiker« an. Sein Stellvertreter erwähnt beiläufig einen Besuch bei Ryke Geerd Hamer in Norwegen. Daraufhin löchern ihn die Anwesenden mit Fragen zum Wohlbefinden ihres obersten Gurus, der an diesem Abend häufig nur ehrfurchtsvoll als »der Doktor« bezeichnet wird.
Hamer begann bereits Anfang der achtziger Jahre, die »Germanische Neue Medizin« zu entwickeln, eine Mischung aus medizinischer Außenseiterlehre und Profit abwerfender Organisation. Obwohl er von seinen Anhängern noch immer als Lichtgestalt verehrt wird, leitet längst ein anderer die Geschäfte: Seine vormalige rechte Hand Helmut Pilhar vertreibt die Bücher und Filme und organisiert die Studienkreise, Vorträge und Seminare. Hamer hält sich derweil in Norwegen auf, wo er sich dem Zugriff der Cottbusser Staatsanwaltschaft zu entziehen versucht, die wegen Volksverhetzung gegen ihn ermittelt.
Die Grundlage seiner Ideologie entwickelte Hamer 1979 nach einer Hodenkrebserkankung. Kurz zuvor war sein Sohn Dirk erschossen worden. Hamer sah eine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen und verallgemeinerte sie zur pseudowissenschaftlichen »Eisernen Regel des Krebs«, die als erstes von insgesamt fünf »Naturgesetzen« später die Grundlage der »Germanischen Neuen Medizin« bildete.
In Hamers Gedankenwelt gibt es keine Krankheiten, sondern nur »Sinnvolle Biologische Sonderprogramme (SBS)«, die durch innere Konflikte ausgelöst werden. Nach einem schweren »Konflikterlebnisschock«, dem »Dirk-Hamer-Syndrom (DHS)«, soll der Patient von Fieber, Schmerzen oder Müdigkeit ruhig gestellt werden. Die Symptome sollen so das biologisch »richtige« Verhalten erzwingen. Die »Therapie« besteht aus einer offenen Aussprache mit dem Partner oder dem Chef und dem anschließenden Warten auf die »Ausheilung«.
»Der Doktor« ist der festen Überzeugung, mit Hilfe der Computertomographie (CT) die Ursache des vermeintlichen inneren Konfliktes eingrenzen zu können. Nach dem »Konflikterlebnisschock« bildeten sich an einer für den jeweiligen Konflikt charakteristischen Stelle »konzentrische Kreise, die wie Schießscheiben aussehen«. In einer Mitteilung an die Ärztekammern vom Juli schreibt die Deutsche Röntgengesellschaft dazu: »Die auf der Homepage der Hamer-Unterstützer zugänglichen Abbildungen sog. ›Hamerscher Herde‹ zeigen … eindeutig nur Kreisartefakte, wie sie bei CT-Geräten älterer Bauart auftreten können, wenn diese technisch nicht einwandfrei arbeiten.« Hamer hat seine Behauptungen bisher dennoch nicht zurückgenommen.
Aribert Deckers verfolgt das Treiben der »Germanischen Neuen Medizin« bereits seit vielen Jahren. Der Kritiker betreibt mehrere Websites zu dem Thema und hat gemeinsam mit einer losen Gruppe von Mitstreitern eine »Totenliste« erstellt, in der die mutmaßlichen Opfer der falschen Behandlungsmethoden der »Germanischen Neuen Medizin« geführt werden. »Wir wissen von über 150 Todesfällen«, sagt er im Gespräch mit der Jungle World. Neben den dokumentierten Fällen geht Deckers aber von einer großen Dunkelziffer aus: »Ich fürchte, dass es drei- oder viermal so viele Tote sind.« Einige davon hätten mit einer schulmedizinischen Behandlung wohl gerettet werden können.
Aber auch Patienten, die von ihren Ärzten bereits aufgegeben worden waren, mussten unnötige Schmerzen erleiden. »Hamer macht den Leuten Angst«, meint Deckers, »und bringt sie dazu, keine Schmerzmittel zu nehmen, indem er behauptet, sie würden dadurch auf der Stelle sterben.«
Die eigentlichen Übel sind Hamer zufolge die Schulmedizin und »die Juden«. Hamer glaubt, dass auf Weisung eines vermeintlichen »Weltoberrabbiners« alle Juden erfolgreich nach der Methode der »Germanischen Neuen Medizin« behandelt würden, während, so schrieb er 2001 in einer öffentlichen Erklärung, »die Rabbiner diese segensreiche Entdeckung nunmehr seit 20 Jahren für Nicht-Juden blockieren und damit das grausigste und schlimmste Verbrechen unserer Weltgeschichte inszeniert haben«. Das Verbrechen bestehe aus »zwei Milliarden an Chemo und Morphium zu Tode gebrachten Patienten!«. Kritische Berichte und juristische Verfahren, die ihm Haftstrafen in Deutschland und Frankreich einbrachten, gehören Hamer zufolge zu einer »beispiellosen Erkenntnisunterdrückungskampagne«.
Das bringt Hamer und seinen Mitstreitern vor allem Verbündete aus der neonazistischen Rechten ein. So warben in der Vergangenheit mehrere NPD-Landesverbände für Veranstaltungen der »Germanischen Neuen Medizin«. Besonders ausgeprägt ist die Sympathie aber in der »Reichsbürger«-Bewegung, die das Deutsche Reich zwar für derzeit nicht handlungsfähig, völkerrechtlich aber noch existent hält. Gleich mehrere »vorläufige Reichspräsidenten« werden deshalb von konkurrierenden Gruppen innerhalb der Bewegung aufgestellt. Als einer von ihnen Hamer 2006 in einem Interview anbot, ebenfalls für einen solchen Posten zu kandidieren, antwortete dieser: »Ja, ich würde annehmen (…) mit Freuden sogar.«
Viele »Studienkreise« der »Germanischen Neuen Medizin« stellten in den vergangenen Jahren ihre Arbeit ein, zurzeit sind es noch knapp 50 in Deutschland, Österreich, Italien und Polen. Die Lehren von Ryke Geerd Hamer sind aber dennoch weit verbreitet. Einige seiner vormaligen Anhänger haben sich mit ihm zerstritten und ihre eigenen Vereine gegründet. Andere lösten die pseudomedizinischen Vorstellungen vom Radauantisemitismus und vermengten sie mit anderen esoterischen Fragmenten, weil sich so deutlich mehr Profit machen lässt.
Dazu gehören neben den so genannten Synergie-Therapeuten und diversen kleineren Gruppierungen vor allem die so genannten Metamediziner. Ihr Marketing gestaltet sich äußerst professionell: Für eine Gala in Kalifornien warben sie mit der Unterstützung etlicher Berühmtheiten wie den Hollywood-Schauspielern Tommy Lee Jones oder Ben Stiller.
Erst im April veranstaltete die International Meta-Medicine Association in München einen zweitägigen »Fachkongress für Ärzte, Heilpraktiker und Therapeuten«. Während die Teilnahmegebühren mit 175 Euro pro Person noch vergleichsweise moderat ausfielen, verlangt die Organisation für ihre »Diplom-Ausbildung« für Ärzte und Heilpraktiker 1 120 Euro.
Aribert Deckers hält die »Metamedizin« für deutlich gefährlicher als ihren Vorläufer. »Die erscheinen im Tarnmantel des Arztes«, sagte er, »und ein Patient ist natürlich völlig nichtsahnend. Der kommt nie darauf, dass die vermeintliche ärztliche Heilkunst, die ihm da gerade vorexerziert wird, in Wahrheit Hamerscher Schwachsinn ist.«