Karadzic in Den Haag und das niederländische Trauma von Srebrenica

Wir waren die Guten

Dass Radovan Karadzic in Den Haag vor Gericht steht, hat für die Niederlande eine besondere Bedeutung. Schließlich muss er sich dort auch für das Massaker von Srebrenica verantworten. Und das ist bis heute ein niederländisches Trauma.

Allgemeine Zufriedenheit herrschte unter den europäischen Regierungschefs, als sie mitten in den Parlamentsferien vor die Presse traten und die Verhaftung von Radovan Karadzic kommentierten. Die Niederländer taten sich dabei als besonders euphorisch hervor. Von einem »gewaltigen Schritt nach vorne« sprach Außenminister Maxime Verhagen im Namen seiner Regierung, und dass der ehemalige Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska umgehend an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert wurde, sei »von unschätzbarer Bedeutung für die Opfer und Angehörigen, für das internationale Recht und dafür, dass Serbien und die Region mit sich ins Reine kommen«.
Dass auch die Niederlande selber mit der Person Karadzic eine unaufgearbeitete Vergangenheit verbinden, erwähnte Verhagen nicht. Dabei erklären sich die gelösten Statements niederländischer Politiker nur zum Teil aus dem späten Triumph internationalen Rechts über die mutmaßlichen Kriegsverbrecher. Wichtiger ist, dass mit Karadzic endlich einer der beiden vermeintlichen Hauptverantwortlichen für das Massaker von Srebrenica vor Gericht steht. Die Ermordung von etwa 7 000 bosnischen Muslimen in der UN-Enklave Srebrenica im Juli 1995 gilt als schlimms­tes europäisches Kriegsverbrechen nach 1945. Dass sie von den anwesenden etwa 600 niederländischen Blau­helm­soldaten (Dutchbat) nicht verhindert werden konnte, ist zu einem nationalen Trauma geworden. Bis heute machen viele die Blauhelmtruppen für das Massaker verantwortlich. Eine Teilnehmerin der jüngsten Gedenkfeiern in Srebrenica reduzierte die Geschehnisse auf eine so einfache wie unbequeme Wahrheit: »Sie waren hier, um uns zu beschützen, aber das passierte nicht.«

Die Diskussion über die Umstände des Massakers lässt die Niederlande seither nicht los. »Lag es am eigenen Versagen oder an der äußersten Schlechtigkeit der Täter?« fasst Peter Romijn zusammen, der Leiter der Forschungsabteilung am Niederländischen Zentrum für Kriegsdokumentation (Niod). Der Wissenschaftler vermutet jedoch im Gespräch mit der Jungle World, »dass es nicht möglich ist, an einem bestimmten Punkt eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen«. Verteidiger der Blauhelmsoldaten weisen immer wieder darauf hin, dass diese nur leicht bewaffnet waren, denn die UN hielt ihre schiere Präsenz für ausreichend, um einen Angriff der Truppen der bosnischen Serben zu verhindern. Dutchbat-Kommandanten berufen sich zudem auf die mehrfach abgelehnte Bitte um Unterstützung aus der Luft. 2002 erschien nach jahrelanger Untersuchung ein offizieller Report des Niod, der sowohl die niederländische Regierung als auch hohe Militärs belastete, den Soldaten selbst jedoch keine ausdrückliche Verantwortung zusprach. Die übernahm dafür der damalige Ministerpräsident Wim Kok, dessen Kabinett in der Folge zurücktrat. Die »Schuld« für dieses Verbrechen liege dagegen bei den serbischen Aggressoren, betonte Kok.
Jenseits solch definitorischer Fragen hat das Massaker in Srebrenica in der politischen Kultur der Niederlande Spuren hinterlassen. »Politik und Gesellschaft wurden damals knallhart mit der Machtlosigkeit gegenüber bewaffneter Aggression konfrontiert«, analysiert Peter Romijn. »Die Rolle der niederländischen Truppen stimmte nicht mit dem Selbstbild einer Nation überein, die dachte, durch bloße Anwesenheit elementaren Schutz bieten zu können.« Die Erschütterung dieses Selbstbilds hatte zur Folge, dass das Massaker von Srebrenica 2006 in den Kanon der historischen Ereignisse aufgenommen wurde, die im Geschichtsunterricht niederländischer Schulen obligatorisch sind. Wie kontrovers das Thema weiterhin behandelt wird, zeigte jedoch die Verleihung eines militärischen Abzeichens an mehrere Hundert Dutchbat-Soldaten im selben Jahr. Offiziell war diese gedacht als »Anerkennung der schweren Umstände« ihrer Arbeit und des »schlechten Lichts, in dem sie dafür zu Unrecht lange Zeit standen«. Die Geste wurde jedoch allgemein als Auszeichnung für besondere Tapferkeit interpretiert und löste im In- und Ausland Entrüstung aus.

In den Niederlanden gehen viele davon aus, dass mit dem Prozess gegen Karadzic auch eine Neubewertung der Schuldfrage verbunden ist. Der in Srbrenica beteiligte Dutchbat-Soldat Johan de Jonge erklärte auf Radio Netherlands: »Ich hoffe, dass den Menschen die Augen geöffnet werden, damit sie sehen, dass es Pläne gab, bestimmte Bevölkerungsgruppen auszulöschen.« Auch nach Angaben von Ton Zwaar vom renommierten Center for Holocaust and Genocide Studies (CHGS) »wird jetzt deutlich werden, dass die Niederlande höchstens eine unterstützende Rolle spielten, dass die internationale Gemeinschaft sie im Stich ließ und wer die wirklichen Täter dieses Massakers waren«. Die Frage war bereits vor der Verhaftung von Karadzic erneut aktuell geworden, nach dem Urteil eines Gerichts in Den Haag, das einen Antrag der Hinterbliebenen-Organisation »Mütter von Srebrenica« abgewiesen hatte. Die Organisation hatte die UN sowie die niederländische Regierung als Teilverantwortliche auf Schadensersatz verklagt. Das Gericht sah jedoch die Soldaten durch die Immunität der UN vor Strafverfolgung gedeckt.
Das Interesse der niederländischen Öffentlichkeit an dem Thema Srebrenica spiegelt sich auch in den Einschaltquoten wider: Als Karadzic Ende Juli dem Richter des Haager Jugoslawien-Tribunals vorgeführt wurde, verfolgten mit gut 30 Prozent knapp fünf Mal so viele Zuschauer die Live-Ausstrahlung als ansonsten im Nachmittagsprogramm üblich. In dieses Bild passt auch die umfangreiche Berichterstattung über das Leben Karadzics unter der Identität des esoterischen Quacksalbers Dragan Dabic. Selbst seriöse Zeitungen wie die Volkskrant warteten mit der Information auf, dass der Kriegsverbrecher seine neuen Nachbarn stets freundlich grüßte. Auf ein grundsätzliches Interesse an einer erneuten inhalt­lichen Auseinandersetzung lässt diese Aufmerksamkeit jedoch nicht unbedingt schließen. Peter Romijn erwartet eher, »dass sich die meisten politischen Akteure solcher Debatten enthalten wollen«. Dem entspricht, dass die niederländische Regierung in der Beziehung zwischen der EU und Serbien die Rolle der moralischen Instanz einnimmt. Seit Jahren betont die niederländische Regierung, dass jede Zusammenarbeit an die Kooperation der serbischen Regierung mit dem Haager Tribunal gebunden sei. Als einziges EU-Land erachtet man zudem die Auslieferung von Karadzic und von Ratko Mladic an das Gericht als unerlässlich für eine eventuelle Mitgliedschaft Serbiens in der EU. Die wahrscheinlich bevorstehende Festnahme von Mladic, der als zweiter Hauptverantwortlicher für das Geschehen in Srebrenica gilt, dürfte die niederländische Regierung in diesem Selbstbild bestätigen. Sie wird jedoch auch unbequemen Fragen neue Relevanz verleihen.