über das zentrale Schülerregister in Hamburg

Immer brav melden

Zum Schutz vernachlässigter Kinder wurde in Hamburg das Zentrale Schülerregister eingerichtet. Nun haben die Behörden dank des Registers eine Schülerin ohne Papiere aufgespürt.

»Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint«, lautet ein Zitat, das Kurt Tucholsky zugeschrieben wird. Ein Beispiel für diese These ist das Zentrale Schülerregister (ZSR). Hamburg hat es 2006 als erstes und bislang einziges Bundesland eingeführt, um vernachlässigten Kindern frühzeitig helfen zu können.

Das Gegenteil ist eingetreten: Weil es keine gültigen Papiere hat, wird einem Mädchen aus Bolivien – das regelmäßig zur Schule geht und gut versorgt ist – das Leben schwer gemacht. Maria* geht in die zehnte Klasse. Die Behörden wissen dank des ZSR mittlerweile, dass die 15jährige Schülerin mit ihrer Mutter seit fast elf Jahren ohne Papiere in Hamburg lebt. Nun droht den beiden die Abschiebung.
Unter dem Motto »Hamburg schützt seine Kinder« wurde das ZSR 2006 eingeführt. Alle Schulleiter sind seitdem verpflichtet, die wichtigsten Daten der Schüler und ihrer Sorgeberechtigten zu erfassen. Damit reagierte der damals von der CDU geführte Senat auf den »Fall Jessica«. Das siebenjährige Mädchen war jahrelang von seinen Eltern vernachlässigt worden, im März 2005 wurde Jessica verhungert aufgefunden. Eine Ursache sah die Behörde im Datenmangel, der durch die schlechte Kommunikation zwischen dem Meldeamt und der Schule entstanden sei. Mit dem ZSR soll die Schulpflicht der etwa 220 000 Schüler in Hamburg durchgesetzt werden. Für die umstrittene Datenbank erhielt die damalige Bildungssenatorin, Alexandra Dinges-Dierig (CDU), im vergangenen Jahr den »Big Brother Award« in der Kategorie »Regional«.
Die damals oppositionelle Grün-Alternative Liste (GAL) und Flüchtlingsverbände kritisierten das ZSR, weil sie Nachteile für Kinder ohne eine gültige Aufenthaltserlaubnis befürchteten. Es wird geschätzt, dass zwischen 200 und 300 Schüler in Hamburg keine Papiere haben. Nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 2008 ließ die schwarz-grüne Koalition die umstrittene Datenbank weiterhin bestehen. Auch nach dem Bekanntwerden von Marias Fall heißt es aus der Schulbehörde: »Es gibt keine neuen politischen Überlegungen.«
Anne Harms, die Leiterin der Initia­tive »Fluchtpunkt«, sieht die Befürchtungen hinsichtlich des ZSR bestätigt. Die Schule habe die Mutter des Mädchens mehrmals aufgefordert, ihre Meldebescheinigung abzugeben, denn durch den automatischen Abgleich mit dem Melderegister sei die Unregelmäßigkeit deutlich geworden. Die Polizei suchte die beiden, klingelte an der Wohnung, traf sie aber nicht an. Offen bleibt die Frage, warum die Polizei aufgrund des ZSR überhaupt ein Mädchen aufsucht, das regelmäßig die Schule besucht und keine Spuren von Vernachlässigung aufweist.

Harms geht es nicht nur um diesen Einzelfall. »Er hat eine dramatische Signalwirkung an alle anderen Eltern«, sagt die Flüchtlingsberaterin. Sie ließen ihre Kinder lieber zuhause, als dass sie eine Entdeckung und Abschiebung riskierten. Seit Einführung des ZSR hätten sich auch viele Schulleiter gemeldet, die verunsichert seien. Papierlose Kinder könnten zwar verschwiegen werden, würden dann aber keine Zeugnisse und Abschlüsse erhalten. Abgesehen davon sei bei Unfällen ungeklärt, welche Versicherung aufkomme, und es gebe kein Büchergeld und keine weiteren Mittel für die unsichtbaren Schüler.
Der Hamburger Rechtsanwalt Heiko Habbe stellte in einem Gutachten zur Einführung des ZSR fest, dass sich aus dem Wortlaut der Schul-Datenschutzverordnung (SDVO) nicht zwangsläufig eine Meldepflicht für die Schulleiter ergebe. »Diese könnte dann höchstens durch eine entsprechende Weisung der zuständigen Behörde begründet werden. Soweit ersichtlich, ist dies bislang unterblieben; zumindest enthält der Brief an die Schulen vom 6. Oktober 2006 formal keine entsprechende Weisung, sondern lediglich eine Bitte und Erinnerung«, schrieb er damals.
Eine andere Sache sei die Pflicht öffentlicher Stellen, Ausländer ohne Aufenthaltsstatus unmittelbar der Ausländerbehörde zu melden. Auf diese Pflicht wird im selben Brief Bezug genommen. Sie gründe auf Bundes- und nicht auf Landesrecht, bestehe daher unabhängig vom Schülerregister, gab Habbe an. »Aber auch öffentliche Stellen sind zur Meldung nur dann verpflichtet, wenn sie positive Kenntnis vom illegalen Aufenthalt des Ausländers erhalten. Eine Pflicht zur Nachforschung ergibt sich hieraus nicht«, schrieb der Rechts­anwalt. Außerdem dürfe niemand genötigt werden, gegen andere gleich- oder höherrangige Pflichten, etwa das Recht auf Bildung, zu verstoßen. »Viele Schulen hatten nicht den Mut und teilten den Eltern mit, dass sie die Kinder melden müssten«, sagt Harms. So wird das Recht auf Bildung unterlaufen, das auch für Kinder ohne Aufenthaltsgenehmigung gilt.
Dies ist eine Folge der Einrichtung des ZSR, dessen Effizienz in der eigentlichen Sache, nämlich vernachlässigte Kinder aufzuspüren, keineswegs erwiesen ist. Die Schulbehörde, bei der das ZSR angesiedelt ist, gleicht die Daten mit dem Melderegister ab. Zugriff haben zudem nach Angaben von Annegret Witt-Barthel, der Sprecherin der Behörde für Schule und Berufsbildung, die Po­lizei wegen des Jugendschutzes und die Gesund­heits­ämter. Jedes Jahr würden »mehrere Einzelfälle von Vernachlässigung« aufgespürt, sagt Witt-Barthel, Zahlen könne sie aber keine nennen.

Die derzeitige grüne Schulsenatorin Christa Goetsch kritisierte, als sie sich noch in der Opposition befand, das ZSR vehement. Mittlerweile sagt sie lediglich: »Das Menschenrecht auf Bildung gilt für alle Kinder, auch dieses Mädchen hat ein Recht auf den höchsten Bildungsabschluss.« Das ist zwar freundlich formuliert, das ZSR bleibt aber dennoch bestehen, die Lage und die Rechte der Familien ohne Papiere werden weiterhin ignoriert. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Hamburg schätzt, dass in der Stadt 100 000 Menschen ohne Papiere leben. Zwar lässt die neue Regierung die Lebenssituation der Illegalisierten gerade erforschen, doch Hinweise, dass sie auch verbessert werden soll, gibt es kaum.
Marias Fall liegt nun der Härtefallkommission vor, die Anfang September über ihn entscheiden wird. Harms befürchtet, dass die Kommission einen »schrägen Kompromiss« finden wird. Es sei leider abzusehen, dass Mutter und Tochter die Abschiebung drohe. »Das Kind hat nur dann eine Chance, nicht nur den nächstmöglichen, sondern auch den höchstmöglichen Abschluss zu machen, wenn es eine Aufenthaltserlaubnis erhält, die lange genug und sicher ist«, sagt Harms. In der Regel sprechen sich die Härtefallkommissionen in einer Art Gnadenakt für eine Duldung aus, deren Verlängerung noch dazu an gute Schulleistungen gekoppelt wird, was eine große Belastung für die Jugendlichen erzeugt. Zudem dürfte die Mutter im Fall einer Duldung nicht mehr arbeiten, die Stadt nicht mehr verlassen und müsste wahrscheinlich aus der Wohnung in ein Wohnheim ziehen.

*Name von der Redaktion geändert