Bayern vor den Landtagswahlen

Die 50-Prozent-Hürde

Anständige Bayern wollen Ordnung und Freiheit von allzu hohen Steuern. Und vor allem wollen sie ihre Ruhe. Da bedeutet selbst der mögliche Verlust der absoluten Mehrheit in den kommenden Landtagswahlen für die CSU nicht das Ende der Herr­schaft.

Auf einer Spätsommerreise durch das südliche Deutschland begleiten einen Maisfelder und Schil­der. Auf den Grenzmarkierungen der Bundesländer sind lachende Kinder oder andere, mehr oder weniger debile Symbole des Frohsinns und Fortschritts zu sehen. Wenn es dann aber nach Bayern hineingeht, begrüßen einen grimmige Wappentiere. Und gleich auf dem ersten Autobahn­park­platz nach der hessischen Grenze wartet sie dann auch schon, die bayerische Polizei, die mit dem bewährten Mittel der Schleierfahndung dafür sorgt, dass nur anständige Menschen das Staatsgebiet betreten.

Mit der Aussage, anständige Bayern wählten die CSU, hat der Ministerpräsident Günther Beckstein wahrscheinlich den rhetorischen Höhepunkt erreicht in diesem seltsamen Landtagswahl­kampf 2008. Natürlich gab es Widerspruch, Paradiesvögel und Eigenbrötler meldeten sich zu Wort. Die SPD ließ sogar Buttons mit der Aufschrift »Ich bin ein unanständiger Bayer« verteilen. Ein gestandener Bayer, eine gestandene Bayerin zu sein, das mag sich aber niemand absprechen lassen.
Wer zwischen Alpen und Donau, im altbayerischen CSU-Herzland , in irgendeiner Weise eine öffentliche Rolle spielen will – und sei es nur im Gespräch am Biergartentisch –, der scheut wie der Teufel das Weihwasser selbst den kleinsten Ver­weis darauf, dass das Bayrischsein, wie auch immer man es überhaupt definieren mag, ja viel­leicht nicht Hauptziel, Sinn und Zweck der eigenen menschlichen Existenz sein könnte. Und je länger man diesen an preußische Hybris gemahnen­den Kleinstaatschauvinismus beobachten kann, desto erleichterter verlässt man dann das Land Bayern wieder – »ein harter, eckiger Strich des Pla­neten«, wie es in dem klassischen, ethnologischen Roman »Erfolg« von Lion Feuchtwanger heißt.

Ganz wie bei Feuchtwanger steht Bayern am 28. Sep­tember anscheinend wieder vor einer großen Veränderung: Die absolute Mehrheit der jahr­zehntelang regierenden Staatspartei sei dahin, heißt es in derzeitigen Umfragen, nur 49 Pro­zent des Staatsvolks würden noch die CSU wählen. Profiteure dieser Entwicklung seien die kleinen, liberalen und bürgerlichen Parteien, die Grünen, die FDP und die Freien Wähler. Die SPD dagegen dümple trotz der gerade noch rechtzeitig vollzogenen Wende nach rechts, eingeleitet von einer vulgär-brachialen Rede Franz Münteferings auf einer Wahlkampfveranstaltung Anfang September im Münchner Hofbräuhaus, bei gerade einmal 19 Prozent dahin. Die »Linke« käme mit vier Prozent gar nicht erst in den Landtag.
Übersehen wird jedoch zum einen die vollkom­mene Abneigung des anständigen Bayern gegen Unordnung jeglicher Art. Gnadenlos hübsch und aufgeräumt wie die vom Tourismus verwüstete Landschaft in Oberbayern wünscht er sich die politischen Verhältnisse: Wer derzeit sagt, dass er sich für die Freien Wähler entscheiden würde, den überkommt in der Kabine dann wahrscheinlich dieses seltsame, katholische Schuldgefühl, und schon wird doch wieder die CSU gewählt. Die Vorstellung, dass Bayern in den nächsten Jahren von einer Vier-Parteien-Koalition regiert wird, die wenigstens einmal in gewissem Maß für politische Neuerungen in dem Bundesland sorgen könn­te, darf man also getrost abhaken.
Zum anderen hat die NPD Bayern zu einem Wahl­kampfschwerpunkt erklärt und hofft dort auf den Durchbruch im Westen, weil ein rechtsextremes Weltbild einer Umfrage zufolge in dem Bundesland überdurchschnittlich verbreitet sei (Jungle World 36/08). Der mögliche Nazi-Wähler verhält sich in den von national befreiten Zonen noch weitgehend verschont gebliebenen Altbundesländern recht schüchtern. Ein gewisser Teil der Stimmen, mit denen Wähler ihrem Unmut über die CSU Ausdruck verleihen wollen, wird für die Nazis abfallen. Der Einzug in den Landtag wird der NPD aber wohl dennoch nicht gelingen, nicht zuletzt deswegen, weil ihnen die ähnlich gesinnten Republikaner Konkurrenz machen.
Im Umgang mit den Nazis hat sich die sonst nicht gerade abstimmungsgeübte CSU-Führung, Erwin Huber und Beckstein, offensichtlich auf eine ganz besondere Arbeitsteilung festgelegt. Wäh­rend Beckstein verlautbarte, er werde der »braunen Bande« deutlich machen, »dass sie in Bayern nicht erwünscht« sei, wie es in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war, folgte der Parteivorsitzende Huber der alten Strategie von Franz Josef Strauß, der zufolge die Nazis zwar irgendwie unangenehm, die eigentlich Bösen aber die »Kom­mu­nis­ten« seien. Deshalb befindet sich Huber seit ei­nigen Wochen auf einem »Kreuzzug gegen die Linken«.

Überhaupt: Franz Josef Strauß! Soll es wirklich so kommen, dass die CSU Bayern ausgerechnet dann aus den Händen verliert, wenn sich der Todestag des großen Vorsitzenden zum 20. Mal jährt? Das Phänomen Strauß kann man Jüngeren vielleicht am besten nahebringen, indem man ihn mit Gerhard Schröder vergleicht: Strauß war einer, der auch schon während seiner Amtszeit ganz ungeniert Geld von Gazprom kassiert hätte – allerdings hätte sich das in einer Zeit zugetragen, in der die Medien der Sache nicht unbedingt nach­gegangen wären und die Gesellschaft im Vergleich zur heutigen einigermaßen vordemokratisch anmutete. Dass es Themen wie Bildung und Kinderbetreuung sein könnten, die 2008 die Wahl entscheiden werden, weil viele bürgerliche Wähler nicht mehr hinnehmen wollen, dass ein anachronistisches Schulsystem schon Grundschüler krank vor Versagensängsten werden lässt, hätte ein Strauß so wenig wie ein Schröder verstanden.
Mit dem Slogan »Bayern. Aber gerechter« wirbt die SPD für ihre Themen Bildung, Familie, Verbraucherschutz und Energiepolitik, die schon lan­ge nicht mehr als »weich« gelten. »77 Prozent der Bayern sind für Mindestlöhne – Ja dann wählt doch auch so! Viele Grüße, SPD«, liest man unter anderem auf den Plakaten. Es ist die immer gleiche, rührende Mischung aus Belehrungen, die man aus der Volkshochschule kennt, und Anbiederung. Wie ein naiver Jüngling, der einfach nicht begreift, warum die Liebe seines Lebens ihn nicht erhört, wo er doch im Vergleich zum protzig-saudummen Nebenbuhler so viel Gutes und Schönes in sich vereint, schreitet die bayerische SPD mit dem wirklich grundsympathischen Franz Josef Maget als Spitzenkandidaten aufrecht in die nächste Niederlage.

An diesem Punkt ist es an der Zeit, jegliche folkloristische Herablassung abzulegen und Bayern und das Wahlverhalten seiner Einwohner im, jawohl, globalen Vergleich zu sehen. Denn so wie die Mehrheit der Italiener Berlusconi dem im Auf­treten und in der Physiognomie Maget frappant ähnelnden Vorsitzenden der Demokraten, Walter Veltroni, vorzieht; wie die Amerikaner unter Umständen John McCain statt Barack Obama zum Präsidenten wählen werden bzw. George W. Bush statt Al Gore und John Kerry gewählt haben, so sicher ist es, dass das moderne Bayern und die CSU sich gegenseitig erhalten bleiben. Beckstein und Huber sind dabei bloße Übergangsfiguren, der Bundesagrarminister Horst Seehofer, Peter Ramsauer, der Vorsitzende der CSU-Bundestagsfraktion, und Joachim Herrmann, der bayerische Innenminister, warten ruhig, bis die beiden Stoiber-Putschisten sich selbst erledigt haben, und wählen derweil schon mal die Waffen für den Kampf um die Nachfolge.
Es ist die Mischung aus Irrationalität, Identi­täts­wahn und Interessenseilschaften, die die Wah­len entscheidet, und nicht ein gut gemeintes Pro­gramm. In Bayern ist die Grundlage für diese Mischung ein ressentimentgeladenes Kleinbürger­tum in Verbindung mit einer oberen Mittelschicht, die vom Staat vor allem polizeistaatliche Ordnung und Freiheit in fiskalischer Hinsicht fordert. Dieses moderne konservative Modell wird in Bayern erfolgreich bleiben. Scheitert die CSU an der 50-Prozent-Hürde, wird das Personal, aber nicht die Politik gewechselt, im Gegenteil. »Was die Bayern von alters her vor allem haben wollten, war ihre Ruhe«, heißt es bei Feuchtwanger. Das sollte man ernst nehmen.