Kimya Dawson und ihr neues Album für Babys und Erwachsene

Lieder aus dem Babyphon

Seit acht Jahren schreibt Kimya Dawson die schönsten und verstörendsten Songs der jüngeren Popgeschichte. Mit »Alphabutt« hat sie ein Album für Babys und Erwachsene vorgelegt.

Wer sich der undankbaren Aufgabe unterzieht, aus den zahl­losen Gelegenheitsäußerungen in Internet-Foren ein mu­sikalisches Charakterprofil von Kimya Dawson zu entwer­fen, dem wird bald die Lust vergangen sein, auch nur ein einziges ihrer Lieder zu hören. Die »bessere Hälfte« des mittlerweile auch schon wieder in Vergessenheit geratenen Ex-Moldy-Peaches-Sängers Adam Green sei, darin ist sich nicht nur die Antifolk-Gemeinde einig, »nied­lich« und »lieb«, ihre Lieder gingen »zu Herzen«, ja kämen »aus tiefstem Herzen«, ihre Musik strei­chele dem Hörer »sachte den Kopf« und sei den­noch »rauh und unmittelbar«, und überhaupt sei niemand so warmherzig, mütterlich, liebevoll und menschenfreundlich wie Kimya Dawson. Man muss kein Hardcore-Fan sein, um auf derlei besinnungsloses Lob idiosynkratisch zu reagieren.
Das Problem ist: Die Fans haben mehr Recht, als sie selber wissen. Sie haben so sehr Recht, dass es schwerfällt, irgendetwas über Kimya Dawson zu sagen, ohne in den Verdacht regressiver Sentimentalität zu geraten. Angesichts der desperaten Einrichtung der Welt mag man einfach nicht glauben, dass es jemanden wie sie überhaupt geben kann. Umso panischer ist die Abwehr bei jenen, denen der Hass auf Schön­heit und Glück, jenseits ideologiekritischer Motivation, zur zweiten Natur geworden ist und die mit ihrer Begeisterung für juvenile Aggressivität längst nicht mehr Außenseiter des Kulturbetriebs, sondern dessen Avantgarde sind. Die habitualisierten Gesten von Reife oder Aufmüpfigkeit, brachialer Triebenthemmung oder raubeiniger Abgeklärtheit, die in den Genres der Pop­musik als Markenzeichen verschiedener Varianten angemaßter Erwachsenheit fungieren, werden in Kimya Dawsons Musik, radikaler als in den Clownerien der Moldy Peaches, suspendiert. In den mit Adam Green eingespielten Liedern des einzigen Moldy-Peaches-Albums finden sich neben an der Grenze zum Verstummen angesiedelten Duo-Nummern noch jede Menge konventionelle Punk-Referenzen, schreiende Dissonanzen und fröhlich-pubertäre Rüpe­leien. Adam Greens spätere Solokarriere hat gezeigt, dass sich auf dieser Basis routinierte Folkmusik produzieren lässt, für deren organisierte Bejubelung sich jederzeit weibliche Teen­ager bei MTV oder Viva rekrutieren lassen.
Kimya Dawson dagegen hat schon mit ihrem ersten Solo-Album »I’m sorry that sometimes I’m mean« deutlich gemacht, dass sie einen anderen Weg gehen würde. Wie in den lan­ge nur per Mailorder erhältlichen Folgealben »Knock-knock who?« und »My cute fiend sweet princess«, die alle zu Hause in ihrem Schlaf- und Wohnzimmer aufgenommen worden sind, dominieren hier Kinder- und Schulinstrumente: Gitarre, Blockflöte, Triangel, Xylophon oder Key­board. Die Melodieführung ist eingängig, aber brüchig, Kimyas Stimme klingt weniger »rau« als heiser-erkältet.
Bei den Liedern handelt es sich um oft quälend lange, traurige Balladen über Außenseiter, Sitzenbleiber und missbrauchte Kinder, all dies ohne Raumtiefe direkt ins Mikrophon geflüstert und in enigmatische Texte gefasst, denen jede Larmoyanz abgeht. Dass Kimya Dawson, die als Erzieherin arbeitet, schon damals begonnen hat, die Stimmen von Kindern in ihre Lieder zu integrieren und die einlullende Re­dundanz von Wiegenliedern adaptierte, brachte ihr in de­mokratischen Independent-Zirkeln der USA den Ruf ein, eine Art alternative Kinderrechtlerin zu sein, die ihre technologiefreie Liedproduk­tion dem Schutz der »Schwächsten« widme. Dass wohl nirgends in der Geschichte der Popmusik Kindheit so kompromisslos als Sphäre der Zerstörung von Erfahrung dargestellt wird wie bei Kimya Dawson, wird konsequent ignoriert.
»Alphabutt«, Dawsons jüngstes, im September erschienenes Album, dürfte gerade seiner ästhetischen Radikalität wegen derlei wohlwollen­de Missverständnisse noch potenzieren. Im Gegensatz zu den früheren Produktionen ist »Alphabutt« ein Konzeptalbum im strengen Sinn: Versammelt sind 15 sehr kurze Lieder, die sich formsprachlich expliziter als je an Kinderliedern, aber auch an Sprachspiel-, Abzähl- und Küchenreimen und anderen Formen niederer Gebrauchslyrik orientieren. Eingespielt wurden sie mit Kimyas Ehemann Angelo Spencer, ihrer gerade zweijährigen Tochter Panda und zahlreichen Babys und Kleinkindern aus beider Freundeskreis, die in fast jedem Lied mit ihrem mal stimmigen, mal asynchronen Giggeln, Lallen, Blubbern und Quietschen präsent sind. Zu den üblichen Instrumenten kommen diesmal Glöck­chen, Tröten, undefinierbare Holz- und Blechschlagzeuge sowie das Blasen auf einem Kamm hinzu. Fast alle Songs, sofern sie überhaupt ein »Thema« im konventionellen Sinn haben, kreisen um Babys und Tiere sowie um deren unbekümmerten Umgang mit der eigenen Körperlichkeit, ständig geht es völlig unfetischistisch ums Pupsen, Kleckern und Pipimachen.
Das alles klingt nach einem Höhepunkt ästhetischer Peinlichkeit. Weil Kimya Dawson aber nicht beabsichtigt, peinlich zu sein oder Tabus zu brechen, ist ein Glücksfall daraus ­geworden – eine neue Liedgattung, die mit all dem, was unter dem Label Antifolk auf dem Markt geführt wird, fast nichts mehr gemein hat. Im Gegensatz zum sentimentalen und ­instrumentellen Umgang mit Kinderstimmen in der üblichen Kuschelmusik für regredierte Erwachsene – man denke nur an Bill Ramsey –, im Unterschied aber auch zum refraktären ­Infantilismus in Teilen des Punk sind die Babystimmen in Kimya Dawsons Liedern nicht nur autonomer Bestandteil der Komposition, vielmehr werden die Kinder als Individuen behandelt und angesprochen. Dies verleiht gerade inti­men, beiläufigen Liedern wie »I Love You Sweet Baby« und »Little Panda Bear«, die der Form des liebkosenden Schlaf- oder Tagesliedes folgen, eine universale Emphase, die mit der »Kinderliebe« paternalistischer Erwachsener ebenso bricht wie mit der Pseudo-Exklusivität »reifer« Liebeslieder, von denen es in Kimya Dawsons Œuvre kein einziges gibt. Indem sich die Liebe zum Kind nicht als menschelnde »Kinderliebe«, sondern als Liebe zu einem einzigartigen Menschen (»you are an amazing human being«) artikuliert, wird aus dem Kinderlied ein Liebeslied, das einlöst, was alle »erwachsenen« Liebeslieder verraten.
Weil im Kind das Individuum angesprochen wird, das in einer besseren Welt aus ihm werden könnte, richten sich all diese Lieder immer auch an das verstümmelte, verleugnete und nie zur Welt gekommene Kind, das in jedem Erwachsenen wohnt und seine stets nur behauptete Unangreifbarkeit konterkariert. Sie konfron­tieren die Scheinautonomie einer in die eigene bornierte Erwachsenheit eingeschlossenen Welt nicht mit dem naiven oder infantilen Kind, das sich die Gesellschaft als entlastendes Gegenbild herbeiwünscht, sondern mit einer auto­nomen Kindheit, die ihre eigene Individua­lität, ihre eigene Würde und ihre eigene Lust kennt. Deshalb feiert selbst ein Lied wie »We’re All Animals«, das den Haarwuchs als Erinnerung an die Kreatürlichkeit aller Menschen preist, nicht die Regression, sondern hält fest an der Möglichkeit gelingender Individuation, die sich nur als stets gebrochenes Versprechen fassen läßt. Die Babystimmen, die »Alphabutt« wie kleine Schlossgespenster durchspuken, sind die bewusstlosen Stimmen dieses Glückverspre­chens.

Kimya Dawson: Alphabutt. Krecords (KLP 193)