Gentrifizierung und Vertreibung. Kreuzberg, Viktoriapark

Berlin, Methfesselstraße

Reihe über Gentrifizierung in der Hauptstadt. Nicht zwangsläufig führt Gentrifizierung zur Vertreibung der ärmeren Bevölkerung. Trotzdem kann man mitten in Kreuzberg auf Luxuskarossen treffen, wo früher Industrieruinen standen.

Die Methfesselstraße am Kreuzberger Viktoriapark hat eine bedeutende Leerstelle. »In den kriegs­zerstörten Häusern Methfesselstr. 10 und 7 entwickelte und baute Konrad Zuse von 1936–1944 die programmgesteuerten Rechen­anlagen Z1–Z4. 1941 ging der Rechner Zuse Z3 als erster funktionsfähiger Computer der Welt in Betrieb.« Die Gedenktafel hängt an einer Mauer, hinter der noch kein neues Haus hochgezogen worden ist. Man kann Zuses nicht wieder errichtetes Haus und die Nachfolger seiner Entdeckung als das Scharnier lesen, das das alte und das neue Bild der Straße verbindet. Noch vor ein paar Jahren lag die halbe Straße brach.
Das Stammgebäude der alten Schultheiss-Brauerei zerfiel als Industrieruine ungenutzt vor sich hin. Außer jugendlichen Abenteurern, Obdachlosen, Fledermäusen und Füchsen wollte dort offensichtlich niemand seine Zeit verbringen. Gleich gegenüber vom Schultheiss-Gelände ging es einem V-förmig von der Straße wegführenden Gebäude, errichtet im Stil des für Westberlin typischen sechziger oder siebziger Jahre Bauherrenmodells, nicht viel anders. Ein Zaun schützte das mit eingeschlagenen Fensterscheiben schlafende Haus nordürftig vor wem auch immer. Und in der Mitte, auf dem Gipfel der Stra­ße, war auch die ehemalige Klinik am Kreuzberg, nach dem die letzte Bewohnerin des Hauses, die Besitzerin der Immobilie, gestorben war, auf dem Weg, zur Ruine zu werden. Nur ein­mal kurz, Anfang der achtziger Jahre, war die ehemalige Abtreibungsklinik zum Gesprächsstoff geworden. Rosa von Praunheim hatte sie damals besetzt und ohne Erfolg gefordert, den Bau zu einer Aidsklinik zu machen. Danach war wieder Ruhe.
Das änderte sich erst, als in den neunziger Jahren auf dem Schultheiss-Gelände mit Bauarbeiten begonnen wurde. Hier sollte, so hieß es, in Anlehnung an die klassische Industriearchitektur, das neue Wohnen im neuen Berlin entworfen werden. Mit Tiefgarage unter den Häu­sern, Maisonetten, Penthäusern und Parkwohnungen. Den meisten Anwohnern in der Umgebung war das erst mal ziemlich egal. Hier wurde ja niemand verdrängt, und übermäßig reich war hier sowieso keiner. Was man bis heute daran sehen kann, dass viele Restaurants in der näheren Umgebung damit werben, ihre Preise um 50 Prozent gesenkt zu haben. Auch wenn man nicht genau weiß, wann sie das getan haben, be­ziehungsweise ob es hier überhaupt mal teurer war, hat es auch mit dem Bauvorhaben in der Schultheiss-Brauerei keinen Einzug von Nobel­restaurants oder teuren Läden gegeben. Eher im Gegenteil.
Die traurige Kneipe an der Ecke Methfessel-/Dudenstraße, die gerade wieder geschlossen ist, hat in diesem Jahr schon drei verschiedene Besitzer gehabt, ohne dass man darin je einen Gast gesehen hätte. Die Wertsteigerung der Gegend ist bisweilen ein Gerücht, das einem auf der Bergmannstraße entgegenkommt und behauptet, man habe schon Geld, wenn man oben auf dem Berg wohnt. Wobei es tatsächlich schön ist, in der Methfesselstraße zu wohnen – auch in der Wohnbrauerei, wie das neue Schult­heiss-Wohnquartier heißt.
Das V-förmige Gebäude gegenüber wurde vor ein paar Jahren renoviert und innen neu ge­staltet. Heute heißt es »Türk Huzur Evi« und ist das erste türkisch geführte Altenheim Berlins. Und die älteren Damen und Herren, die mit ihren Gehhilfen manchmal spazieren gehen, zeu­gen eher von einer angenehmen Verlangsamung des Tempos auf der Straße als von einer mittemäßigen Beschleunigung.
Ähnliches geschah mit der alten Klinik am Kreuzberg. Eine Hamburger Stiftung kaufte das Haus auf und baute es zu einer Art Jugendzen­trum für Kinder und Jugendliche aus, mit thera­peutisch betreuten Wohngemeinschaften für essgestörte Mädchen. Private Wohnräume machen in der »Gelben Villa« nur ein Achtel der Wohnfläche aus. Auch in der »Gelben Villa« wie im türkischen Altersheim hatten die neuen Einrichtungen keine Verdrängung alteingesessener Anwohner zur Folge. Nur – und das ist viel­leicht der bedeutendere Aspekt der Modernisierungen am Kreuzbergpark – stabilisieren sie das Milieu, das hier schon länger lebt, um Möglichkeiten für jene »bildungsfernen« Schich­ten zu schaffen, die zumindest die »Gelbe Villa« im Blick hatte, als sie ihren Betrieb aufnahm.
Der weitere Einzugsbereich um die Methfessel­straße mit dem Chamissoplatz als Zentrum ist schon seit Jahrzehnten kein Berliner Problem­bezirk, sondern eine Mischung aus Lehrern, klassischen Berliner Kleinbürgern, Kleinhändlern und verstreuten Intellektuellen. Hinzu kommt, dass es in diesem Einzugsbereich eine der besten Berliner Grundschulen gibt. Vor­aussetzungen also, die sich sozusagen ihre Klien­tel selbst suchen. Und es sind dann auch die Gebildeteren, die ihre Kinder zu von Künstlern geleiteten Bildhauer- oder Fotokursen schicken und nicht die avisierten Problemkinder.
Politisch problematisch wird das vor allem dann, wenn die staatlichen oder städtischen Stellen solche von Stiftungen betriebenen Einrichtungen als Argument benutzen, um mit staatlichen Mitteln geförderten Kinderläden oder Hilfsorganisationen die Gelder zu streichen. Das Argument läuft dann immer in der gleichen Spirale: Die privaten Stiftungen werden vor allem von denen genutzt, die sowieso schon aus dem bildungsbürgerlichen Milieu kommen. Bildung schafft nach dem alten Gesetz Bildung, und die keine haben, müssen zusehen, wo sie bleiben. Insofern handelt es sich in der Methfesselstraße weniger um eine Gentrifizierung des Bezirks als um eine Fort­schrei­bung und Verjüngung des alten Milieus mit neuen Häusern auf altem Grund.
Wirklich neu war allerdings die Frau, die jeden Morgen aus einem Jaguar Sovereign steigt, der, wie eine Passantin mit zwei Hunden bemerkte, mindestens 75 000 Euro koste. Im klassischen Heroin-Chic der endneunziger Jahre gekleidet, ging sie in die Wohnbrauerei. Zur Arbeit in eine jener gut gehenden Telekommunikations- oder Werbe-Webdesignfirmen, die aus München hierher umgesiedelt sein sollen.